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WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International

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Der Wille, die Emotionen und das Selbst<br />

Wie funktioniert freier Wille?<br />

Plenarvortrag<br />

Julius Kuhl<br />

Emotionen haben neben ihrer klassischen Signal- und Verhaltenssteuerungsfunktion<br />

eine modulierende Wirkung auf die<br />

Interaktion zwischen psychischen Systemen. Darüber hinaus<br />

sind sie integraler Bestandteil eines weitgehend unbewussten,<br />

in Ausschnitten aber bewusstseinsfähigen Selbst. Vor dem<br />

Hintergrund experimentalpsychologischer und neurobiologischer<br />

Forschungsergebnisse wird eine integrative Persönlichkeitstheorie<br />

vorgestellt (PSI-Theorie), in der die Interaktion<br />

zwischen einem integrationsstarken Selbst und einem fokussierungsstarken<br />

Ich ein zentrale Rolle spielt. Das Selbst liegt einer<br />

weitgehend unbewussten Form des Willens zugrunde, die<br />

durch die Jahrtausende alte Reduzierung auf die (bewusstseinspflichtige)<br />

Form des disziplinierenden („diktatorischen“)<br />

Willens in Theologie, Philosophie und Psychologie fast völlig<br />

übersehen wurde. Wirkprinzipien der Logotherapie können<br />

vor dem Hintergrund der PSI-Theorie und der durch sie integrierten<br />

Forschungsbefunde erklärt werden. „Willensfreiheit“<br />

widerspricht vor diesem Hintergrund nicht dem kausal-deterministischen<br />

Weltbild: Sie beschreibt den Fall, dass eine Person<br />

„frei“ ist, bei ihrer Entscheidung alle persönlich (d. h. für<br />

das Selbst) relevanten Informationen zu berücksichtigen (z. B.<br />

Präferenzen, Werte, Gefühle, Bedürfnisse, Fähigkeiten: eigene<br />

und die anderer). Diese Freiheit kann durch äußere oder innere<br />

„selbstfremde“ Kräfte eingeschränkt werden (z. B. äußerer<br />

Zwang, Erwartungsdruck bzw. innere Impulse, wie überstarke<br />

Gewohnheiten oder Affekte).<br />

Schlüsselwörter: Freier Wille, Personale Existenzanalyse,<br />

PSI-Theorie, Selbststeuerung<br />

The will, the emotions and the self: How does free will<br />

work?<br />

It is argued that phenomenological and scientific world views<br />

are compatible without resorting to dualistic or reductionistic<br />

efforts. The concept of „free will“ can be regarded as an example<br />

illustrating how phenomenological understanding (first<br />

person perspective) and scientific explanation (third person<br />

perspective) can be combined. Free will can be considered<br />

a special form of (causal) determination. Specifically, the subjective<br />

feeling of free will presumably occurs when people are<br />

“free” to make their decisions on the basis of all personally relevant<br />

(experiential) information, including their (and significant<br />

others‘) preferences, values, emotions, needs, abilities and relevant<br />

experiences (e.g. context-sensitive options for action).<br />

The concept of „self“ is to denote an intuitive (parallel-distributed)<br />

experiential network that integrates those personally relevant<br />

inputs. Loss of freedom occurs when openness to this extended<br />

experiential network („extension memory“) is impeded<br />

by external or internal forces (e.g. external control and conformity<br />

pressure or internal impulses like self-incongruent habits,<br />

emotional impulses or purely analytical considerations that are<br />

dissociated from the self). Experimental and neuro-psychological<br />

research is reported supporting this view. This compatibility<br />

can also be found at the level of theory-construction as<br />

exemplified by PEA (Person-centered Existential Analysis) and<br />

PSI theory (The theory of Personality Systems Interactions). It is<br />

concluded that phenomenological and psychological approaches<br />

are compatible and valuable for interdisciplinary dialog<br />

resulting in a deeper understanding of the most complex<br />

phenomena associated with human existence.<br />

Keywords: free will, Person-Centered Existential Analysis, PSI<br />

Theory, self-regulation<br />

Schon der Untertitel meines Beitrags klingt paradox: Die<br />

Frage nach dem Funktionieren des „freien“ Willens scheint<br />

unvereinbare Welten zu vermischen. Willensfreiheit wird<br />

seit Jahrtausenden als ein nur subjektiv erlebbarer, nicht<br />

aber objektiv erklärbarer Zustand diskutiert. Das Verstehen<br />

des Funktionierens eines Systems erfordert statt einer<br />

solchen subjektiven (phänomenologischen) die objektive<br />

Erkenntnisform eines unabhängigen Beobachters. Wenn<br />

ich weiß, wie etwas funktioniert, dann verstehe ich kausale<br />

Zusammenhänge: Der Motor meines Autos muss Treibstoff<br />

geliefert bekommen, dann kann es zur Zündung des Luft-<br />

Gas-Gemisches kommen. Postuliere ich mit der Frage nach<br />

dem Funktionieren des Willens nicht auch kausale Zusammenhänge?<br />

Ist aber Willensfreiheit nicht als Freiheit von der<br />

kausalen Determination zu verstehen? Das wäre ein Grund,<br />

warum wir uns ihr nur phänomenologisch nähern könnten.<br />

Auf diese Frage gehe ich am Ende dieses Beitrags ein. Das,<br />

was ich vorher über unsere Erforschung des Willens im<br />

Kontext der Gesamtpersönlichkeit zu berichten habe, bietet<br />

dann <strong>–</strong> sozusagen als Nebenprodukt <strong>–</strong> auch eine Antwort auf<br />

die Frage nach der Willensfreiheit.<br />

Das Willensparadox<br />

Was können wir aus der funktionsanalytischen Sicht einer<br />

naturwissenschaftlich arbeitenden Psychologie über den<br />

Willen sagen? Hier lauert schon das nächste Willensparadox.<br />

Es wurde schon vor zweieinhalbtausend Jahren von Platon<br />

erkannt. Es taucht auf, wenn wir Begriffe wie Selbstbeherrschung,<br />

Selbstdisziplin oder Selbstkontrolle verwenden: „Ist<br />

nun aber das „Herrsein seiner selbst“ nicht lächerlich? Denn<br />

der Herr seiner selbst wäre auch Knecht seiner selbst, und<br />

der Knecht Herr; denn von der gleichen Person ist in allen<br />

diesen Beziehungen die Rede.“ (Platon, Politeia, IV, 139)<br />

Ich habe vor gut 15 Jahren einmal einen theoretisch allzu unbekümmerten<br />

Artikel eines amerikanischen Kollegen über<br />

„Selbststeuerung“ (oder „Volition“ wie der Wille heute in<br />

EXISTENZANALYSE 29/2/2012 39

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