WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Plenarvortrag<br />
Arbeit am Freiheitsspielraum statt Appellation an<br />
einen „Frei-Geist“<br />
Emmanuel J. Bauer<br />
Freiheit ist ein Konstituens menschlicher Existenz, verstanden<br />
als die grundsätzliche Offenheit des Menschen, sein Sein zu<br />
entwerfen, und resultierend aus der Fähigkeit, zu sich, seinen<br />
Handlungen und seiner Welt in Distanz zu treten. Die Frage der<br />
Philosophie ist heute nicht, ob der Mensch frei ist, sondern in<br />
welchem Maß und in welcher Qualität er frei ist. Die neurobiologischen<br />
Erkenntnisse machen die vielfältige Bedingt- und<br />
Begrenztheit der Freiheit bewusst. Diese ist weder reine Willkür<br />
noch Indifferenz, aber auch keine bloße Handlungsautonomie,<br />
sondern ein dynamischer, gewachsener, geschichtlichbiographisch<br />
bedingter Spielraum personalen Wollens. Psychotherapie<br />
kann daher bei ihrer Arbeit nicht große Sprünge<br />
(im Sinne des voluntaristischen Freiheitsoptimismus Frankls) im<br />
Auge haben oder einen homunculusartigen „Frei-Geist“ im<br />
Menschen beschwören, sondern unter Berücksichtigung der<br />
vielfältigen Dimensionen nur kontinuierlich an der Erweiterung<br />
des Freiheitsspielraums arbeiten.<br />
Schlüsselwörter: Willensfreiheit, Freiheitsraum, existentielle<br />
Offenheit<br />
Working on the scope of freedom instead of appealing<br />
to a free spirit<br />
Freedom is a constituent of human existence, understood as<br />
mankind’s fundamental openness to shape one’s own being<br />
and resulting from the capability to take a step back from<br />
oneself, one’s actions and one’s world. The question of philosophy<br />
today is not, whether the human being is free, but to<br />
what extent and in which quality his freedom lies. Neurobiological<br />
findings make us aware of the manifold conditionality<br />
and limitedness of freedom. It is neither pure arbitrariness<br />
nor indifference, and also not mere autonomy of action, but<br />
a dynamic, grown, historic-biographically determined margin<br />
for personal wanting. Therefore the process of psychotherapy<br />
cannot have great leaps in mind (in terms of Frankl’s voluntarist<br />
freedom optimism) nor can it conjure up a homunculus<br />
like free spirit in the human being, but rather, considering the<br />
manifold dimensions, only work continuously on expanding the<br />
scope of freedom.<br />
Keywords: freedom of will, scope of freedom, existential<br />
openness<br />
Vorbemerkung<br />
Ich gehe davon aus, dass Sie alle freiwillig hier sind.<br />
Schließlich wird niemand gezwungen worden sein, diesen<br />
Kongress zu besuchen. Die Frage ist aber: Waren Sie im vollen<br />
Sinn des Wortes auch innerlich frei, als Sie sich für die Teilnahme<br />
entschieden? Angenommen, der Kongressbesuch ist für Sie<br />
eine unabdingbare Voraussetzung für den Erwerb des Psychotherapie-Diploms,<br />
in Wahrheit interessiert Sie das Thema aber<br />
nicht sonderlich und Sie hätten lieber etwas ganz anderes getan.<br />
Oder angenommen, Sie ließen sich bei der Anmeldung im Geheimen<br />
von dem Gedanken bestimmen, es sich nicht gut leisten<br />
zu können, von den Verantwortlichen der Gesellschaft für Logotherapie<br />
und Existenzanalyse hier nicht gesehen zu werden.<br />
Wäre Ihre Entscheidung auch unter solchen Umständen noch<br />
wirklich frei gewesen? <strong>–</strong> Wie dem auch sei, diese zugegebenermaßen<br />
konstruierten Vorüberlegungen zeigen uns, dass Freiheit<br />
ein sehr komplexes, subtiles und fragiles Phänomen ist. 1<br />
Die doppelte Anfrage der Freiheit<br />
Freiheit ist eine existentielle und ontologische Grundbestimmung<br />
des menschlichen Daseins, die einen doppelten<br />
Fragecharakter aufweist: 2 Einerseits wird und wurde Freiheit<br />
immer wieder vom Menschen in Frage gestellt, andererseits<br />
stellt auch umgekehrt die Freiheit den Menschen je<br />
neu zutiefst in Frage. Sie ist also in einer Weise eine fragile<br />
Wirklichkeit, die durch viele Faktoren bedroht ist und untergraben<br />
werden kann. Trotzdem ist sie aber eine Grunderfahrung<br />
des Menschen, die den Menschen als Person konstituiert.<br />
Als solche verstehen wir Freiheit als fundamentale<br />
existentielle Offenheit, als die grundsätzliche Möglichkeit,<br />
das eigene Sein zu entwerfen, und zwar unter den je konkreten<br />
Daseinsbedingungen und innerhalb der damit gezogenen<br />
Grenzen. Man könnte in diesem Sinn von transzendentaler<br />
bzw. ursprünglich-ontologischer Freiheit sprechen.<br />
Wäre der Mensch nicht von seiner Seinskonstitution her ein<br />
freies Wesen, könnte er die unfrei machenden Faktoren seines<br />
Lebens gar nicht als solche erfassen.<br />
Freiheit als Konstituens des Menschen als<br />
Person und bleibende Anfrage<br />
Diese konstitutive Bedeutung der Freiheit kommt pointiert<br />
in einem Wort Giovanni Pico della Mirandolas zum<br />
Ausdruck: Er weiß den Menschen im Unterschied zu ande-<br />
1<br />
Das vorliegende Referat diente auch als Ausgangspunkt eines Artikels im Salzburger Jahrbuch für Philosophie LVII (2012) mit dem Titel „Wie frei ist<br />
der Mensch? <strong>–</strong> Wie ist der Mensch frei?“.<br />
2<br />
Vgl. dazu Bauer, Emmanuel J. (Hg.), Freiheit in philosophischer, neurowissenschaftlicher und psychotherapeutischer Perspektive, München: Wilhelm<br />
Fink 2007; Zaborowski, Holger, Spielräume der Freiheit. Zur Hermeneutik des Menschseins, Freiburg im Breisgau: Alber 2009, 59ff; und Bieri, Peter,<br />
Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, München: Hanser 2001 (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verl. 9 2009).<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 9