WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Symposium: Theologie und Seelsorge<br />
Eröffnet wurde die Debatte um die Willensfreiheit seinerzeit<br />
durch Erasmus von Rotterdam und seine „Streitschrift<br />
vom freien Willen“ (Diatribe de libero arbitrio).<br />
Erasmus (1466/9-1536) war zwar katholischer Kleriker und<br />
damit auch ihr Repräsentant in der Öffentlichkeit, aber auf<br />
der anderen Seite stand er als hochgebildeter Humanist seiner<br />
Kirche mit ihren diversen Verfallserscheinungen durchaus<br />
kritisch gegenüber. So gab es manche Themen, die gemeinsames<br />
Anliegen waren sowohl für den Humanismus<br />
als auch für die Reformation: Aufdeckung von Mißständen,<br />
Kritik an der Scholastik, Hochschätzung von Bildung und<br />
Wiederentdeckung antiker Quellen, so auch der Bibel im<br />
Ursprungstext.<br />
Erasmus selbst war nicht ohne Sympathien für die Ziele<br />
der Reformation, doch gab es auch manches, was ihn abschreckte.<br />
Die Heftigkeit der Auseinandersetzungen war<br />
an sich schon nichts für sein Naturell; steile Thesen widersprachen<br />
seinem Hang zu Ausgewogenheit und auch Skepsis;<br />
Luthers Aussagen zur Willensfreiheit bzw. -unfreiheit<br />
schließlich ließen ihn auf die literarische Barrikade klettern<br />
(nach längerem Zögern und auch unter äußerem Druck),<br />
weil er dadurch sein persönliches Ideal von einer Erneuerung<br />
christlichen und kirchlichen Lebens in Anlehnung an<br />
die Bergpredigt in Gefahr sah. Ausführungen Luthers, die<br />
dem Menschen die Willensfreiheit in bezug auf das ewige<br />
Heil absprachen, hatte Erasmus durch andere Veröffentlichungen<br />
schon zur Kenntnis genommen. Dies mußte ihm so<br />
erscheinen, als stünde damit auch die Verantwortlichkeit des<br />
Menschen zur Disposition, so wie der Sinn von Bildung und<br />
Erziehung, dem sich Erasmus ja verschrieben hatte.<br />
Also verfaßte Erasmus im Jahre 1524 seine Streitschrift<br />
vom freien Willen, in der er den freien Willen zunächst<br />
einmal folgendermaßen definiert: „Unter dem freien Willen<br />
verstehen wir die Kraft, mit welcher der Mensch sich<br />
demjenigen, was zum ewigen Heil führt, zuwenden oder<br />
von ihm abwenden kann.“ (Lohse 1995,180) Mit dieser Definition<br />
hat Erasmus zumindest das Grundanliegen Luthers<br />
getroffen. Beim Thema Willensfreiheit geht es beiden um<br />
die grundsätzliche Ausrichtung menschlichen Lebens, die<br />
über ewiges Heil oder Unheil entscheidet. Es geht nicht um<br />
Banalitäten des Alltags (was zu Mittag gekocht wird oder<br />
ob man heute noch den Wagen wäscht oder erst morgen),<br />
es geht auch nicht um Einzelentscheidungen, die mithilfe<br />
vernünftigen Abwägens zu treffen sind, sondern es geht um<br />
die Frage: Kann sich ein Mensch aus freien Stücken Gott<br />
zuwenden und aus eigener Kraft ein gottgemäßes Leben<br />
führen, also in Übereinstimmung mit dessen Willen, angemessen<br />
antwortend auf Gottes Anrede und Forderung und<br />
so seiner geschöpflichen Bestimmung gerecht werdend, um<br />
von Gott angenommen und geliebt zu sein in unzerstörbarer<br />
Nähe zu ihm? Kann ein Mensch dies von sich aus und umgekehrt:<br />
Kann er sich dem auch bewußt verweigern und in<br />
freier Entscheidung einen Weg weg von Gott wählen?<br />
Das Anliegen des Erasmus ist nun <strong>–</strong> bei aller Priorität,<br />
die er dem Handeln Gottes einräumt, weil er Gott wie die<br />
Tradition als erste Ursache sieht, als absoluten Willen, aus<br />
dem alles hervorgeht, als Allwissenden und auch Vorherwissenden<br />
<strong>–</strong> dem Willen des Menschen dann doch eine Mitwirkung<br />
zuzusprechen, denn ohne Freiheit ist für Erasmus auch<br />
keine Verantwortung gegeben. Ohne Appell an die Verantwortung<br />
aber wird dem Menschen ein Freifahrtschein für<br />
gottloses Verhalten ausgestellt.<br />
Erasmus beruft sich natürlich auch auf die Bibel, gerade<br />
auch auf die von ihm so geschätzte Bergpredigt, wo vom<br />
Lohn für das rechte Tun die Rede ist. Lohn aber kann sich<br />
nur der verdienen, der die Freiheit dazu hat. Alles in allem<br />
wird der menschlichen Willensfreiheit bei Erasmus eine geringe,<br />
aber doch tragende Rolle zugesprochen: „Wir verdanken<br />
Gott das ganze Werk, ohne den wir nichts vermögen,<br />
und das, was der freie Wille an Wirkung vermag, ist überaus<br />
gering und eben göttliches Geschenk.“ Damit ist Erasmus<br />
gleichzeitig in der Betonung einer eingeschränkten Willensfreiheit<br />
auch nicht zu weit gegangen im Rahmen dessen,<br />
was nach dogmatischem Konsens in der katholischen Kirche<br />
dazu gilt.<br />
Nachdem die Streitschrift des Erasmus erschienen war,<br />
hat Luther alsbald damit begonnen, seine Gegenposition zu<br />
formulieren, die im Folgejahr 1525 unter dem Titel „Diatribe<br />
de servo arbitrio/Streitschrift über den unfreien Willen“<br />
erschien. Mit dieser Überschrift wird bereits mehreres deutlich:<br />
Erstens beinhaltet schon der Begriff „unfreier Wille“<br />
eine Anspielung auf die Wortwahl des Kirchenvaters Augustin,<br />
womit Luther sich auf den Boden der Tradition stellt.<br />
Zweitens wählt Luther ebenfalls die literarische Form der<br />
„Streitschrift“, die er dann allerdings inhaltlich anders füllt<br />
als Erasmus. War es diesem zu tun gewesen um ein Gegenüberstellen<br />
verschiedener Pros und Contras, ohne sich im<br />
einzelnen allzu genau festzulegen, geht es Luther nun um<br />
eindeutige bekenntnishafte Aussagen, also wenn man so<br />
will, ganz in der Haltung der Entschiedenheit. Das Problem<br />
der Willensfreiheit ist für ihn kein Randthema, das er<br />
im Ungefähren belassen könnte, weil darin die Bedeutung<br />
des Evangeliums und der Erlösungstat Christi betroffen ist.<br />
So ist ihm die Position des Erasmus, der die Menschen zur<br />
Buße im Geiste der Bergpredigt aufruft und ihnen zur Hoffnung<br />
auf die Barmherzigkeit Gottes, die ihrem schwachen<br />
Willen aufhilft, rät, zu wenig angesichts der Grundsatzfrage:<br />
Was kann menschliches Wollen im Blick auf das ewige Heil<br />
überhaupt leisten und erreichen?<br />
Luther spricht dem Menschen die Willensfreiheit in seinem<br />
Verhältnis zu Gott rundweg ab. Freiheit hat der Mensch<br />
nur gegenüber dem, was unter ihm ist, worüber er urteilen<br />
und bestimmen kann. Dem unendlichen, ewigen Gott jedoch<br />
kann der endliche, zeitliche Mensch nicht in Freiheit begegnen.<br />
An dieser Stelle geht Luther folglich noch über Augustinus<br />
hinaus, indem er die Unfreiheit des Willens nicht erst<br />
durch den Sündenfall, sondern schon in der Geschöpflichkeit<br />
des Menschen begründet. Vor dem Sündenfall hatte Adam<br />
nur die gebundene Freiheit, Gottes Gnade anzunehmen und<br />
nach Gottes Gebot zu leben. Nach dem Sündenfall ist die<br />
Ausrichtung menschlichen Wollens in Gänze der Sünde<br />
unterworfen. Damit hat Luther das Verständnis von Sünde<br />
noch einmal vertieft und radikalisiert, weit über einzelnes<br />
Fehlverhalten hinaus und auch weit über eine Engführung<br />
als triebhaftes Begehren.<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 107