WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Plenarvortrag<br />
digkeit. In neuerer Zeit sah sich die Freiheit des Subjekts<br />
vor allem durch zwei Tendenzen bedroht, zum einen durch<br />
eine Infragestellung ihrer faktischen Wirklichkeit, zum anderen<br />
durch eine radikale Infragestellung ihrer Möglichkeit,<br />
letzteres entweder durch ein Zuwenig oder durch ein Zuviel<br />
an Anspruch, der an sie gestellt wurde.<br />
Die Wirklichkeit der Freiheit wurde durch die verschiedenen<br />
Varianten der poststrukturalistischen These in Frage<br />
gestellt, der Einzelne sei nicht frei gestaltendes und handelndes<br />
Subjekt, sondern vielmehr Produkt der systemischen<br />
Verhältnisse. Im Letzten kommt dies einer Auflösung der<br />
Person in bloße Funktion gleich. Relevanz und Lebensnähe<br />
dieser Einschätzung sind nicht zu leugnen. Die postmoderne,<br />
globalisierte Welt bietet nicht nur ein unendliches Meer<br />
bzw. Mehr an Möglichkeiten für den einzelnen Menschen,<br />
sondern zwingt ihn auch förmlich zu einer Aufspaltung seines<br />
Selbst in verschiedene Rollen und Funktionen in einer<br />
bisher nie da gewesenen Weise.<br />
Die grundsätzliche Möglichkeit der Freiheit wird heute<br />
vor allem durch die Neurowissenschaften in Frage gestellt,<br />
die ihr die spezifischen Existenzbedingungen absprechen.<br />
Manche Vertreter der Neurowissenschaften meinen, aus ihren<br />
empirischen Ergebnissen die metaphysische These ableiten<br />
zu können, dass Freiheit bloß eine Illusion sei (Wolf<br />
Singer, Gerhard Roth), d.h. dass der Mensch nicht tue, was<br />
er will, sondern bloß wolle, was er tut, 11 genauer gesagt, dass<br />
sein Wollen nicht mehr sei als das begleitende oder nachträgliche<br />
Bewusstsein eines die Entscheidung determinierenden<br />
physiologischen Prozesses des Gehirns oder des Unbewussten.<br />
12 Das ist übrigens keine neue These. Nicht nur Spinoza<br />
vertrat sie schon, 13 auch Nietzsche war überzeugt, dass der<br />
freie Wille im Sinne eines eigenen Vermögens bloß eine metaphysische<br />
Erdichtung, in Wirklichkeit aber eine Ansammlung<br />
von mechanischen Reaktionen auf äußere Reize sei. 14<br />
Zum anderen wird die Möglichkeit von Freiheit auch<br />
durch ihre Absolutsetzung in Frage gestellt, d. h. durch den<br />
hypertrophen Anspruch, dass Freiheit nur dort gegeben sei,<br />
wo eine Entscheidung nicht nur durch keine äußeren Zwänge,<br />
sondern auch durch keine inneren Gründe determiniert<br />
sei. Das hieße, dass freies Entscheiden und Handeln eine<br />
totale Unabhängigkeit von allen Determinanten wie soziokulturellen<br />
und psychosozialen Dispositionen, Persönlichkeitsprägungen<br />
und Charaktermerkmalen und sogar inneren<br />
Überzeugungen voraussetzen müsste. Da eine derartige absolute<br />
Autonomie in der Realität eine Utopie bleibt, außerdem<br />
die persönliche Entscheidung zu einem Zufallsprodukt<br />
meiner selbst machen würde, halten manche Philosophen<br />
(etwa Galen Strawson) die Freiheit aus theoretischen Gründen<br />
für unmöglich.<br />
Freiheitsraum statt Frei-Geist<br />
Nach jahrelangen Diskussionen geht es heute in der<br />
Philosophie eigentlich nicht mehr um die Frage, „ob“ der<br />
Mensch frei ist oder nicht, sondern um die Frage, „wie frei“<br />
er ist, in welcher Weise und in welchem Ausmaß der Mensch<br />
frei entscheiden und handeln kann. Man hat zudem erkannt,<br />
dass viele der ventilierten Probleme mit der Freiheit aus<br />
einem dualistischen Menschenbild à la Descartes resultieren,<br />
das den Menschen als faktische Synthese zweier selbständiger<br />
Substanzen, nämlich des Geistes und des Körpers,<br />
betrachtet und damit die Frage aufwirft, ob und wie die eine<br />
auf die andere Substanz einwirkt und welche von beiden die<br />
Hegemonie innehat.<br />
Begreifen wir dagegen den Menschen als Wesen, das zu<br />
physischen, psychophysischen und geistigen Akten fähig ist,<br />
die im Normalfall, soweit es sich um bewusste und moralisch<br />
relevante Akte handelt, jeweils alle diese Dimensionen<br />
aufweisen, dann wird klar, dass menschliche Freiheit immer<br />
eine bedingte und endliche Wirklichkeit ist.<br />
Die Wirklichkeit der Freiheit ist wesentlich ein Vermögen<br />
im Sinne der Fähigkeit zu autonomer Entscheidung und<br />
Handlung. Freiheit meint fürs erste also Handlungsfreiheit:<br />
Frei bin ich, wenn ich tun kann, was ich will. Dieser Begriff<br />
der Freiheit ist primär ein negativer Begriff und bezieht<br />
sich auf das Können, das Freisein von äußeren Zwängen. Sie<br />
meint aber auch den offenen Raum der Handlungsmöglichkeiten,<br />
ist also auch für die „Freiheit wozu“ relevant. Man<br />
könnte sie auch äußere Freiheit nennen. Das allein wäre<br />
aber zuwenig. Denn die entscheidende Frage ist doch, ob<br />
ich auch das wollen kann, was ich will, ob ich in der Wahl<br />
meiner Absichten und Ziele frei bin. Gibt es auch so etwas<br />
wie Willensfreiheit, also eine innere Freiheit? Diese ist auf<br />
subtilere Art bedroht und scheint noch mehr in Gefahr zu<br />
sein als die Handlungsfreiheit. Wir kennen genügend Beispiele,<br />
wo die Freiheit in diesem Sinn gegen ihren Anschein<br />
nicht mehr gegeben ist. Wenn ein Kettenraucher reflexartig<br />
ununterbrochen zur Zigarette greift, ein Zwangsneurotiker<br />
ständig die Türklinke putzt oder ein Mensch mit Sozialphobie<br />
jeden Kontakt zu Menschen meidet, dann werden wir<br />
diese Handlungen bzw. Entscheidungen nicht als frei im eigentlichen<br />
Sinn bezeichnen wollen.<br />
Unter Berücksichtigung dieser beiden Dimensionen von<br />
Freiheit könnte man den freien Willen folgendermaßen definieren:<br />
Unter freiem Willen wird hier die Fähigkeit des Menschen<br />
verstanden, sich aufgrund von guten Gründen (die direkt oder<br />
indirekt aus eigenen Werten und Überzeugungen resultieren)<br />
und in bewusster Stellungnahme zu ihnen für bestimmte<br />
Handlungen zu entscheiden und sie auch umzusetzen.<br />
11<br />
Vgl. Roth, Gerhard, Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, 453; ders., Wir sind determiniert.<br />
Die Hirnforschung befreit von Illusionen, in: Geyer, Christian (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente,<br />
Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, 218<strong>–</strong>222; und ders./ Grün, Hans-Jürgen (Hg.), Das Gehirn und seine Freiheit. Beiträge zur neurowissenschaftlichen<br />
Grundlegung der Philosophie, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006.<br />
12<br />
Vgl. Singer, Wolf, Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbestimmung. Zwei konfliktträchtige Erkenntnisquellen, in: Schmidinger, Heinrich/<br />
Sedmak, Clemens (Hg.), Der Mensch <strong>–</strong> ein freies Wesen? Autonomie <strong>–</strong> Personalität <strong>–</strong> Verantwortung, Darmstadt: Wiss. Buchges. 2005, 135<strong>–</strong>160.<br />
13<br />
Die Annahme einer Freiheit im Sinne der nicht-notwendigen Indifferenz sei die Folge davon, dass die Menschen sich ihres Begehrens bzw. ihrer<br />
Aktionen zwar bewusst sind, aber die (wahren) Ursachen nicht kennen, von denen ihr Streben und Tun determiniert ist. Vgl. Spinoza, Baruch de, Ethik in<br />
geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch-Deutsch. Neu übers., hrsg., mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat (Sämtliche Werke, Bd.<br />
2), Hamburg: Meiner 2007, hier III, 2, Sch.<br />
14<br />
Vgl. Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches I und II (Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino<br />
Montinari, Bd 2), München: Dtv 1988, hier I, n. 18 (S 40).<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 11