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WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International

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Klinisches Symposium<br />

Zwangsbehandlungen in der Akutpsychiatrie<br />

Rainer Gross<br />

Für jene PsychotherapeutInnen, die eine Akutpsychiatrie nicht<br />

aus eigener Erfahrung kennen, ist „Zwangsbehandlung“ verbunden<br />

mit den Assoziationen von „Niederspritzen“ und inhumaner<br />

Behandlung von PatientInnen. Die Realität ist komplexer:<br />

Die Freiheitsrechte der PatientInnen sind in Österreich<br />

durch das „Unterbringungsgesetz“ ziemlich gut geschützt, die<br />

Anwendung von Zwangsmitteln sehr genau geregelt: Dadurch<br />

sind z. B. an unserer Abteilung 90% der PatientInnen freiwillig<br />

aufgenommen, allerdings eben immer noch 10% unfreiwillig <strong>–</strong><br />

ca. jeder vierte davon (also insgesamt jeder 25. Patient) wird<br />

gegen seinen/ihren Willen medikamentös behandelt.<br />

Im Vergleich zu früher sind es zwar viel weniger Zwangsbehandlungen,<br />

allerdings immer noch viel zu viele für das Wunschziel<br />

einer gewaltfreien Psychiatrie. In meinem Referat versuche ich,<br />

die gesetzlichen Rahmenbedingen psychiatrischen Handelns<br />

darzulegen (Unterbringungsgesetz etc.). Weiters möchte ich die<br />

schwierige Balance der PsychiaterInnen im Rahmen des „doppelten<br />

Mandats“ (therapeutischer Auftrag und Kontrollauftrag)<br />

beschreiben und abschließend auch auf die Konstellationen<br />

von Übertragung und Gegenübertragung bei der Ausübung<br />

von Zwang in der Behandlung eingehen. Ziel des Referates<br />

wäre ein verbessertes Verständnis akutpsychiatrischer Behandlung<br />

auch für nicht-psychiatrisch vorerfahrene KollegInnen.<br />

Schlüsselwörter: Gegenübertragung,<br />

Unterbringungsgesetz, zwangsweise Aufnahme/<br />

Zwangsbehandlung in Akutpsychiatrie<br />

Coercive treatment in acute psychiatry<br />

For psychotherapists without experience in acute psychiatry,<br />

coercive treatment is associated with compulsory medication<br />

and inhumane handling of patients. But reality is more complex:<br />

Civil rights of patients in Austria are pretty well-protected<br />

through the Hospitalization Act, and the implementation of<br />

coercive means is very precisely regulated. Thus our unit for<br />

instance has 90% voluntarily hospitalized patients, but still 10%<br />

remain involuntarily hospitalized <strong>–</strong> among these approximately<br />

one in four (altogether every 25th patient) is subjected to compulsory<br />

medication.<br />

Compared to the past there are indeed far less coercive treatments,<br />

but still far too many for the desired goal of a nonviolent<br />

psychiatry. In my presentation I attempt to outline the legal<br />

framework for psychiatric action (Hospitalization Act etc.).<br />

Furthermore I would like to describe the difficult balance of<br />

psychiatrists within the double mandate (therapeutic duty and<br />

supervisory role) and finally say a word about the constellations<br />

of transference and counter transference when implementing<br />

force during treatment. Aim of this contribution is to<br />

enhance understanding of acute psychiatric treatment also<br />

for colleagues without experience in psychiatry.<br />

Keywords: counter transference, Hospitalization Act,<br />

compulsory hospitalization/coercive treatment in acute<br />

psychiatry<br />

Psychiatrie: Hilfe und Kontrolle<br />

Wenn wir Menschen als extrem offene Systeme begreifen,<br />

die normalerweise über viele Freiheitsgrade verfügen,<br />

dann können wir Krankheit und speziell psychische Krankheit<br />

als einen Zustand des Verlustes vieler dieser Freiheitsgrade<br />

beschreiben, oder aber: Als eine Zunahme von inneren<br />

Zwängen. Dies empfinden sowohl die Betroffenen, als auch<br />

ihre Angehörigen als eines der erschreckendsten Erlebnisse<br />

beispielsweise beim Ausbruch einer Psychose: Dass nämlich<br />

der Patient selbst sein Verhalten und Denken eben nicht mehr<br />

beliebig beeinflussen und ändern kann, seinen inneren Zwängen<br />

ausgeliefert scheint. Wenn dieser Zustand so gefährlich<br />

scheint, dass das Leben des Patienten oder anderer Menschen<br />

dadurch gefährdet wird, dann kommt dieser Patient schlimmstenfalls<br />

in die Psychiatrie <strong>–</strong> und zwar zwangsweise!<br />

Für die Funktion der Psychiatrie bieten sich nun zwei<br />

diametral entgegengesetzte „globalisierende“ Szenarien an:<br />

Einerseits Psychiatrie als hilfreiche, verständnisvolle therapeutische<br />

Institution mit geduldigen und freundlichen Mitarbeitern<br />

<strong>–</strong> das wäre die Beschreibung der therapeutischen<br />

Funktion der Psychiatrie unter Ausblendung ihrer Kontrollfunktion.<br />

Das dunkle Gegenbild dazu wäre die Psychiatrie als<br />

totale Institution, als Psycho-Kerker zur Formatierung sensibler<br />

Seelen, die in die Konformität mit gesellschaftlichen<br />

Normen zurückgezwungen werden <strong>–</strong> das wäre die Reduktion<br />

der Psychiatrie auf ihre Kontrollfunktion. Beide Positionen<br />

bilden jeweils nur einen Teil der psychiatrischen Realität ab.<br />

Die Psychiatrie stellt einen Übergangsbereich dar zwischen<br />

zwei großen gesellschaftlichen Regulationssystemen:<br />

dem Kontrollsystem der Polizei und Justiz einerseits<br />

und dem Helfer-System der Medizin. Beide Systeme sind<br />

befasst mit Regulierung, Verwaltung, Kontrolle und möglichst<br />

Korrektur von abweichendem Verhalten. Das Polizei-/<br />

Justiz-System kümmert sich um die Abweichung von den<br />

sozialen Normen, das medizinische System um Pathologien<br />

der körperlichen und seelischen Gesundheit. Daher greift<br />

das Polizeisystem prinzipiell bei nach außen getragener Destruktivität<br />

ein (schlimmstenfalls Gewalttat), das Medizin-<br />

System soll nach innen gerichtete Destruktivität (Krankheitssymptome)<br />

behandeln bzw. beseitigen. Beide Systeme<br />

sind (zwangsläufig) normorientiert.<br />

Die Psychiatrie an der Grenze der beiden Systeme enthält<br />

Systeme von beiden: Sie versucht sowohl das Leiden<br />

der psychisch erkrankten Betroffenen, als auch das durch<br />

psychische Symptome in der Umgebung der Patienten verursachte<br />

Leid zu beheben. Sie muss aber auch diejenigen Abweichungen<br />

sozialer Normen „behandeln“, die vom Justiz-/<br />

Polizeisystem nicht erfasst werden (können). Dies betrifft<br />

sozial grob auffälliges Verhalten ohne damit verbundenem<br />

EXISTENZANALYSE 29/2/2012 57

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