WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Symposium: Theologie und Seelsorge<br />
In seiner Wiener Vorlesung von 1949 heißt es: „Konfession<br />
ist nur Form, nur Weg. Je mehr es einem um das Ziel<br />
geht, umso weniger streitet man um den Weg, umso mehr<br />
sieht man im Weg eben nur den Weg, nur einen der Wege zu<br />
dem einen Ziel. Dies heißt Toleranz. Der Glaube darf nicht<br />
starr sein <strong>–</strong> er soll fest sein. Starrer Glaube macht fanatisch<br />
<strong>–</strong> fester Glaube tolerant.“ (ebd., 239) Das sind vor über 60<br />
Jahren formulierte Anregungen, die in den gegenwärtigen<br />
Fundamentalismus-Debatten sehr hilfreich sind! Auch in der<br />
kontrovers geführten Debatte um die Einbeziehung oder den<br />
Ausschluss religiöser oder spiritueller Fragen in Psychotherapie<br />
führen die Überlegungen Frankls weiter.<br />
In seiner Religiosität war Frankl nicht engstirnig. Es lassen<br />
sich sogar hochaktuelle interreligiöse Impulse bei ihm<br />
finden: „Mir scheint, dass die verschiedenen religiösen Denominationen<br />
verschiedenen Sprachen vergleichbar sind.<br />
Man kann auch nicht behaupten, dass eine Sprache allen anderen<br />
überlegen ist, so wie man nicht sagen kann, dass eine<br />
Sprache ‚wahr‘ oder ‚falsch‘ ist. Mit jeder Sprache nähert<br />
man sich der einen Wahrheit von verschiedenen Seiten an,<br />
und in jeder Sprache kann man sich irren, ja sogar lügen.“<br />
(Frankl 1961)<br />
Ist damit jeder Mensch ein spirituelles Wesen? Davon<br />
war Frankl fest überzeugt, und manche apodiktisch klingenden<br />
Ausführungen haben großen Widerspruch hervorgerufen.<br />
Zwei griffige Beispiele aus der Wiener Vorlesung<br />
„Der leidende Mensch“ (Frankl 1984, 230, 233), zu Anfang<br />
obig zitiertes: „Am Grunde unseres Seins liegt eine Sehnsucht,<br />
die dermaßen unstillbar ist, dass sie gar nichts anderes<br />
meinen kann als Gott“; „Entweder der Mensch versteht sich<br />
als Ebenbild Gottes <strong>–</strong> oder er missrät zum Zerrbild seiner<br />
selbst“.<br />
Es ist ein großer Fortschritt, dass heute religiöse und spirituelle<br />
Bedürfnisse viel aufmerksamer und ernsthafter als<br />
früher wahrgenommen werden. Dazu hat Frankl wesentlich<br />
beigetragen! Die wissenschaftliche Überprüfung der gesundheitlichen<br />
Bedeutung von Sinnfindung, von existentiell tragfähigen<br />
Werten oder einer religiös-spirituellen Krankheitsbewältigung<br />
findet in der Psychotherapie noch nicht lange<br />
statt. Viele Jahrzehnte wurden die Bereiche des Glaubens<br />
und Hoffens, der religiösen Überzeugungen und spirituellen<br />
Praxis in der Psychotherapie tabuisiert (vgl. Kaiser 2007).<br />
Erst seit kurzem werden spirituelle und religiöse Bedürfnisse,<br />
Haltungen und Einstellungen auch in Europa psychologisch<br />
untersucht, und über spirituelle Bewältigungstechniken<br />
wird intensiv geforscht (vgl. Utsch 2011).<br />
Dabei wird der Begriff Spiritualität psychologisch als<br />
eine anthropologische Kategorie verwendet, um die existenzielle<br />
Haltung und Reaktion auf Krisen und andere Bedrohungen<br />
des Lebens zu beschreiben. Religionsübergreifend<br />
wird mit der Spiritualität des Menschen sein unbestimmbares<br />
Wesen als prozessorientiert und zeitlich offen untersucht,<br />
seine Beziehungsgestaltung zu sich selber, zum sozialen<br />
Umfeld, zur Transzendenz und sein Selbstverständnis als<br />
ein verwundbares und endliches Wesen. Angesichts dieser<br />
existenziellen Bedrohungen erweist sich die Funktion von<br />
Spiritualität prinzipiell als unverfügbar und vieldeutig.<br />
Was bedeutet Spiritualität also kurz gefasst psychologisch?<br />
Nach der WHO ist jeder Mensch spirituell, weil er<br />
sich spätestens angesichts des Todes existenziellen Fragen<br />
stellen muss und Erfahrungen im Umgang damit macht. Spiritualität<br />
wird als die Reflexion der Erfahrungen verstanden,<br />
die im Umgang mit existenziellen Krisen gemacht werden.<br />
Ambivalente Position Frankls<br />
Liest man Frankls Ausführungen zur Religion sorgfältig,<br />
kommt eine unverkennbare Ambivalenz zum Vorschein:<br />
Einerseits begründete er seine Logotherapie metaphysisch.<br />
Ganz klar ist seine Personlehre in der katholischen Anthropologie<br />
Max Schelers mit einem personalen Gottesbild verwurzelt.<br />
Die jüdisch-christlichen Grundlagen des existenzanalytischen<br />
Menschenbildes sind ein wesentlicher Grund<br />
dafür, dass besonders viele Theologen und spirituell interessierte<br />
Therapeuten eine Weiterbildung in dieser Therapieschule<br />
absolvieren.<br />
Auf der anderen Seite ist bei Frankl ein fast ängstliches<br />
Bemühen festzustellen, jede Grenzüberschreitung zur Theologie<br />
und zur christlichen Seelsorge zu vermeiden. Immer<br />
wieder begrüßte er den interdisziplinären Dialog, der jedoch<br />
nur unter strenger Einhaltung der Grenzen des jeweiligen<br />
Kompetenzbereiches gelingen könne. Aufgabe der Theologie<br />
sei es, sich mit der Offenbarung von Gottes Heilshandeln<br />
zu beschäftigen. Die Psychologie könne lediglich Aussagen<br />
über die menschliche Rezeption dieser Offenbarung treffen,<br />
also die personale Reaktion auf eine religiöse oder spirituelle<br />
Erfahrung.<br />
Frankl betonte auch deshalb so vehement die Grenze<br />
zwischen Psychotherapie und Religion, weil er damit die<br />
Kluft zwischen der metaphysischen Begründung der Logotherapie<br />
und dem Anspruch einer allgemein gültigen Behandlungsmethode<br />
zu überbrücken suchte, was ihm nicht<br />
überzeugend gelang. Erst mit der personalen Wende in der<br />
Existenzanalyse wird Sinnfindung nicht mehr metaphysisch<br />
begründet, sondern als personale Erfahrung abgeleitet. Dadurch<br />
wird der existenzielle Sinn eine psychologische Größe,<br />
die keinen Glauben mehr benötigt, ohne einen solchen<br />
jedoch abzuwerten oder den Zugang zu ihm zu verstellen<br />
(vgl. Längle 2011).<br />
Diese Bezogenheit auf das größere Ganze der Transzendenz<br />
veranschaulichte Frankl in einem anschaulichen<br />
Bild: „Die Wesenslehre vom Menschen muss offen bleiben<br />
<strong>–</strong> offen auf Welt und auf Überwelt hin; sie muss die Tür zur<br />
Transzendenz offen halten. Durch die offene Tür aber fällt<br />
der Schatten des Absoluten.“ (Frankl 1984, 222)<br />
Beraterinnen und Psychotherapeuten interpretieren jedoch<br />
diesen „Schatten des Absoluten“ sehr unterschiedlich.<br />
Im Umgang mit dem Geheimnis der Transzendenz hat<br />
Frankl zwei wichtige Impulse geliefert. Zum einen plädierte<br />
er vehement dafür, unbewusste Religiosität bewusst zu machen.<br />
Ganz in Analogie zu Freud ging es ihm um eine Aufdeckung<br />
verschütteter Wurzeln der Biografie. Dieses Plädoyer<br />
ist auch heute noch wichtig zu hören, weil die Religiosität<br />
in der Psychotherapie häufig immer noch tabuisiert wird.<br />
Im Unterschied zu Freud war Frankl jedoch nicht rein immanent<br />
orientiert. Wie oben gezeigt wurde, sieht Frankl im<br />
Transzendenzbezug ein konstitutives Element der Existenz.<br />
Frankls zweiter wichtiger Impuls ist seine Verknüpfung<br />
der Psychologie mit Spiritualität. Deutlich trennt er seine<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 111