WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Plenarvortrag<br />
analyse der standardisierten Reaktionen erbrachte höchste<br />
Werte für die älteste Generation bei den Faktoren „Furcht<br />
vor religiösen Sanktionen“ (z. B. „Ich hätte Angst, Gott<br />
würde mich bestrafen“) und „habitualisierte Konformitätsdisposition“<br />
(z. B. „Ich finde schon den bloßen Gedanken<br />
daran abstoßend“), für die beiden mittleren Kohorten bei<br />
dem Faktor „Angst vor Über-Ich-Sanktionen“(z. B. „da<br />
hätte ich ewig ein schlechtes Gewissen“), für die Jüngsten<br />
bei ich-nahen moralischen wie amoralischen Vorgaben (z.<br />
B. „Auch wenn es niemals einer erfahren würde, ich würde<br />
schwer damit fertig werden“; „Da käme ich wahrscheinlich<br />
doch bald darüber hinweg“). Über die Generationen hinweg<br />
machen also fremdbestimmte Reaktionen <strong>–</strong> Über-Ich-<br />
Diktat und ein fast automatisiertes Konformitätsbedürfnis<br />
<strong>–</strong> eher selbstbestimmten (moralischen wie amoralischen)<br />
Reaktionen Platz.<br />
Die Veränderung sei an zwei offenen Antworten illustriert.<br />
Eher charakteristisch für die älteren Befragten ist die<br />
folgende: „…würde mich sehr elend fühlen, als ob’s jeder<br />
einem ansieht…sehr schrecklich, schuldbewusst auf jeden<br />
Fall und Scham und einfach auch Angst weiterzuleben, also<br />
Angst du hast was Schlimmes gemacht, also ich kann mir<br />
das gar nicht …also ich find’s ganz schrecklich und weiß<br />
nicht, ob ich nochmals richtig lachen könnte oder froh sein.“<br />
Eher typisch für Jüngere: „Nach meiner Auffassung <strong>–</strong> ich<br />
würde eigentlich keine Fähigkeit aufbringen können, keine<br />
Entscheidungskraft besitzen, so was zu tun, weil das für<br />
mich ein doppelter Vertrauensmissbrauch ist…das könnte<br />
ich mir eigentlich gar nicht vorstellen. Ich kann mir vorstellen,<br />
wenn ich’s denn gewesen wäre, ich denke, ich hätte<br />
mich überhaupt nicht wohlgefühlt und irgendwann hätte ich<br />
vielleicht doch…“ Im ersten Zitat spiegelt sich Furcht vor<br />
der Rache des Über-Ichs, im zweiten eine Selbstbindung an<br />
moralische Überzeugungen, die so stark ist, dass die Person<br />
sich nicht dazu bringen kann, sie zu verraten. Sollte sie dies<br />
dennoch tun, erwartet sie nicht Bestrafung von einem gestrengen<br />
inneren Richter, sondern fühlt sich mit sich selbst<br />
nicht mehr im Reinen und überlegt Wiedergutmachungsmöglichkeiten.<br />
Die Veränderung in der Verankerung von Moral in der<br />
Person hat zwei Ursachen: Zum einen sind religiös begründete<br />
Moralvorstellungen zunehmend durch die säkulare Vernunftmoral<br />
abgelöst. Diese ist auf ein <strong>–</strong> universell einsichtiges<br />
<strong>–</strong> Verbot der Schädigung Dritter begrenzt (vgl. Gert<br />
1988). Damit entfallen viele der nur mit Zwang oder Indoktrination<br />
durchsetzbaren Tabuisierungen (z. B. Homosexualität).<br />
Zum andern hat sich die Erziehung gewandelt. An<br />
die Stelle von Gehorsam und Unterordnung sind Selbstständigkeit<br />
und freier Wille getreten und an die Stelle autoritär<br />
erlassener Befehle Aushandlung und Mitbestimmung (vgl.<br />
Reuband 1988). Beide Momente <strong>–</strong> die egalitäre Gleichachtung<br />
in der Familie und die Eingrenzung von Moral <strong>–</strong> tragen<br />
dazu bei, dass nachwachsende Generationen einen Modus<br />
moralischer Motivation entwickeln, den ich „freiwillige<br />
Selbstbindung aus Einsicht“ nenne.<br />
Die beschriebenen Unterschiede zwischen selbstbestimmtem<br />
und verursachtem Wollen betreffen die Struktur des Willens.<br />
Sie sind nicht eine Frage der Geschlechts-, sondern der<br />
Generationszugehörigkeit.<br />
Damit komme ich zur zweiten Hauptfrage:<br />
Ist Lassen weiblich?<br />
Auch beim Lassen möchte ich zwei Stufen unterscheiden.<br />
Die erste ist ein bloß inaktives Hinnehmen von Gegebenheiten.<br />
Hier möchte ich es bei einem Verweis auf deren<br />
weitgehende Komplementarität zur ersten Stufe des Wollens<br />
belassen. Auf der zweiten Stufe geht es <strong>–</strong> wie beim Wollen<br />
zweiten Stufe <strong>–</strong> um eine Stellungnahme, allerdings nicht<br />
zu eigenen Bestrebungen, sondern zum Geschehen. Victor<br />
Frankl spricht von „Einstellungswerten“: Der Mensch, so<br />
eine seiner Grundthesen, hat die Freiheit „sich … zu seinem<br />
Schicksal so oder so einzustellen“ (2007, 150). Das ermöglicht,<br />
„dass die scheinbar negativen Seiten der menschlichen<br />
Existenz, insbesondere jene tragische Trias, zu der sich Leid,<br />
Schuld und Tod zusammenfügen, auch in etwas Positives, in<br />
eine Leistung gestaltet werden können, wenn ihnen nur mit<br />
der rechten Haltung und Einstellung begegnet wird“ (1985,<br />
159). Und diese besteht darin, „noch im Leiden einen Sinn<br />
zu finden“ (1985, 158).<br />
Die Frage lautet nun: Gibt es Geschlechtsdifferenzen in<br />
dieser Fähigkeit oder Bereitschaft, unabänderliche Gegebenheiten<br />
als „Aufgegebenheiten“ zu verstehen (vgl. 2007,<br />
60) und eine „Verantwortung gegenüber einem Sinn“ (ebd.,<br />
66) wahrzunehmen? Ich will diese Frage am Beispiel religiöser<br />
Orientierung diskutieren. Grundlage sind Daten einer<br />
repräsentativen Erhebung der Religiosität von über 21.000<br />
Menschen in 21 Ländern (vgl. Bertelsmann Stiftung 2008).<br />
Religion wurde weit gefasst als „Bezug zur Transzendenz“,<br />
wobei „sowohl theistische als auch pantheistische Vorstellungen<br />
und damit verbundene Praxis- und Erfahrungsformen<br />
berücksichtigt“ wurden (Huber 2009, 18), also sowohl „Beten“<br />
wie „Meditieren“, sowohl „das Gefühl, Gott oder etwas<br />
Göttliches greife ein ins Leben“ wie „das Gefühl, mit allem<br />
eins zu sein“ (Bertelsmann Stiftung 2009, 770). Die Analysen<br />
zeigen, dass für (hoch und mittel) religiöse Menschen<br />
Religiosität eng mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem<br />
Umgang mit Lebenskrisen und wichtigen Lebensereignissen<br />
wie Geburt, und Tod verbunden ist (vgl. 2008, 279f). Somit<br />
scheint Religiosität ein geeigneter Indikator für Lassen auf<br />
der zweiten Stufe.<br />
Unterscheiden sich die Geschlechter in ihrer Religiosität?<br />
In Deutschland waren etwas mehr Männer (34%) als Frauen<br />
(23%) „nichtreligiös“. Allerdings <strong>–</strong> so Wohlrab-Sahr (vgl.<br />
2009, 158) <strong>–</strong> zeigen andere Studien, dass diese Unterschiede<br />
in dem Maße verschwinden, in dem Frauen sich am Erwerbsleben<br />
beteiligen. Geschlecht ist also nicht entscheidend. Doch<br />
zentral ist der Befund, dass der Anteil Nichtreligiöser stark<br />
zwischen den verschiedenen Gesellschaften variiert: Er liegt<br />
bei 1% in Nigeria und Indien, bei unter 10% in der Türkei,<br />
Brasilien und Marokko, bei 52% in Russland und bei 63%<br />
Ostdeutschland (vgl. Bertelmann Stiftung 2008, 260). Nun<br />
ist Religiosität zwar nicht notwendig, aber doch wohl hinreichend<br />
für eine sinndeutende Haltung zu schicksalhaften Geschehnissen.<br />
Damit wäre das Lassen zweiter Stufe nicht eine<br />
Frage der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht, sondern<br />
der persönlichen Religiosität oder der Zugehörigkeit zu einer<br />
stark religiösen Kultur. Das ist im Einklang mit Frankls These,<br />
„dass sich im Leben Sinn finden lässt unabhängig von der<br />
Geschlechtszugehörigkeit“ (oder auch von anderen Variablen<br />
wie Alter, Intelligenz, Bildung etc., 2011, 47).<br />
54 EXISTENZANALYSE 29/2/2012