WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Plenarvortrag<br />
Gibt es Geschlechtsunterschiede im Wollen<br />
auf der ersten Stufe?<br />
Ich diskutiere diese Frage an den Variablen Aggressivität<br />
und Sexualität, die sich für eine Prüfung meiner eher<br />
konstruktivistischen Position besonders gut eignen. Theoretisch<br />
unterstellt die Soziobiologie in beiden Dimensionen<br />
ein höheres männliches Aktivitätsniveau, das stärkere<br />
Willensfähigkeiten verbürgt. Und empirisch stellen<br />
beide Variablen Ausnahmen vom überwältigenden Befund<br />
der psychologischen Geschlechterforschung dar, die zeigt:<br />
Empirisch ist die These einer Geschlechterähnlichkeit weit<br />
besser fundiert als die in feministischen Diskursen, wissenschaftlichen<br />
Debatten und im alltagsweltlichen Selbstverständnis<br />
vorherrschende These der Geschlechterdifferenz.<br />
In ihrer umfassenden Meta-Analyse von (45) Metaanalysen<br />
(in der die Ergebnisse von über 7000 Einzelstudien integriert<br />
sind) fand Hyde (2005) bei mehr als drei Viertel der<br />
124 untersuchten Variablen, die kognitive, kommunikative,<br />
motorische, moralische Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale,<br />
psychische Gesundheit, Berufsbewertung, Computernutzung<br />
umfassten, keine (30%) oder nur geringe (48%)<br />
Geschlechtsdifferenzen. Nur in drei Bereichen zeigten sich<br />
größere Unterschiede <strong>–</strong> in den motorischen Fähigkeiten, bei<br />
der Sexualität und der Aggressivität.<br />
In der Tat scheint die höhere Aggressivität von Männern<br />
durch die Kriminalstatistik gut belegt: Weltweit sind<br />
fast alle Mörder Männer (z. B. in Nord- und Mittelamerika<br />
96%) (vgl. UNODOC 2011). Aber ich möchte zwei Einschränkungen<br />
anführen: Zum einen differiert die Mordrate<br />
erheblich zwischen verschiedenen Ländern. In Deutschland<br />
beispielsweise beträgt sie jährlich 1 pro 100 000, in Honduras<br />
82 (vgl. UNODOC 2011). Dabei belegen die Analysen<br />
klare Abhängigkeiten der Mordrate von sozialstrukturellen<br />
Faktoren: Sie liegt deutlich niedriger in Ländern mit einer<br />
eher egalitären Einkommensverteilung, einem verlässlich<br />
institutionalisierten Rechtssystem, einem erschwerten Zugang<br />
zu Schusswaffen sowie in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität.<br />
Die Zugehörigkeit zu solchen Ländern erklärt also<br />
aggressives Ausagieren um ein Vielfaches besser als die<br />
Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht. Zum andern ist<br />
die Form der Aggressivität zu berücksichtigen. Zwar sind<br />
Männer in der Tat körperlich und auch verbal aggressiver.<br />
Aber etliche Studien, in denen Beziehungsaggressivität (z. B.<br />
abträgliche Gerüchte über andere verbreiten, mit Abbruch<br />
der Freundschaft drohen) getrennt erhoben und beobachtet<br />
wurde, fanden bei Frauen deutlich höhere Werte (vgl. Hyde<br />
2005). Die Geschlechtsrollenerwartungen kanalisieren also<br />
die Form, in der aggressive Impulse ausgedrückt werden.<br />
Die Daten zur Aggressivität stützen <strong>–</strong> wenngleich in begrenztem<br />
Umfang <strong>–</strong> die These eines stärkeren männlichen<br />
Wollens. Anhand von Sexualität möchte ich nun das Gegenbeispiel<br />
eines bei Männern geschwächten Willens diskutieren.<br />
In ihrer Analyse der modernen Liebe führt Eva<br />
Illouz (vgl. 2011) das Phänomen männlicher Bindungsangst<br />
<strong>–</strong> entgegen psychoanalytischen Defizithypothesen <strong>–</strong> auf sozialstrukturelle<br />
Veränderungen des Heiratsmarkts zurück.<br />
Das Angebot hat sich stark erweitert: Religiöse, ethnische,<br />
soziale und <strong>–</strong> dank der sexuellen Emanzipation der Frau <strong>–</strong><br />
auch normative Barrieren sind weitgehend abgebaut und<br />
das Internet vervielfacht die Zugangschancen. Die Menge<br />
fast unbeschränkt verfügbarer Partner erzeugt bei Männern<br />
zwei Formen von Bindungsangst: Bei der hedonistischen<br />
wird eine Bindung um der lustvollen Anhäufung von Beziehungen<br />
willen hinausgezögert, bei der willenlosen steht die<br />
Fähigkeit, sich binden zu wollen, selbst auf dem Spiel. Die<br />
erste Form ist „durch die Schwierigkeit bestimmt, sich aus<br />
einem Übermaß an Möglichkeiten für ein Liebesobjekt zu<br />
entscheiden, die zweite durch das Problem, überhaupt niemand<br />
zu wollen“ (ebd. 154). Die „Fähigkeit, den Prozess<br />
des Begehrens in Gang zu setzen“ ist geschwächt, das „Begehren<br />
(findet)…keinen Rückhalt im Willen mehr “ (ebd.<br />
436). Frauen sind von diesen Problemen weniger betroffen.<br />
Das Reproduktionsinteresse im Auge und das Ticken der biologischen<br />
Uhr im Ohr wählen sie eher „satisficing“ statt<br />
„maximizing“ Strategien.<br />
Auf der ersten Stufe des Wollens hat sich also gezeigt,<br />
dass soziokulturelle Einflussfaktoren eine möglicherweise<br />
natürlich begründete höhere männliche Willensfähigkeit nicht<br />
nur erheblich überlagern, sondern sogar umkehren können.<br />
Wie sieht es nun auf der zweiten Stufe aus?<br />
Gibt es Geschlechtsunterschiede im Wollen<br />
auf der zweiten Stufe?<br />
Beim selbstbestimmten Wollen prüft die Person, ob sie<br />
wirklich will, was sie unmittelbar will. Voraussetzung ist die<br />
kognitive Fähigkeit zur Distanzierung von spontanen Impulsen<br />
und die willentliche Fähigkeit zum Aufschub der Befriedigung<br />
konkurrierender Bedürfnisse. Unterscheiden sich<br />
die Geschlechter in dieser Willensfähigkeit? Ich behandele<br />
diese Frage am Beispiel moralischer Motivation. Dabei handelt<br />
es sich um ein „second order desire“, das <strong>–</strong> wie ein Filter<br />
(vgl. Baron 1984) <strong>–</strong> nur solche „first order desires“ passieren<br />
lässt, die mit den eigenen Überzeugungen kompatibel sind.<br />
Im ersten Schritt geht es um die Stärke moralischer Motivation<br />
(um die Frage nach inhaltlichen Präferenzen im Wollen),<br />
im zweiten Schritt um ihre Verankerung in der Person (um<br />
die Frage nach der Struktur des Wollens).<br />
Stärke moralischer Motivation: Im Kontext einer Längsschnittstudie<br />
(vgl. LOGIK, Weinert 1998, Schneider 2008)<br />
konnte ich die Entwicklung moralischer Motivation an einer<br />
repräsentativen Stichprobe von anfänglich 200 4- bis 22- jährigen<br />
untersuchen (vgl. Nunner-Winkler 1998, 2008). Im Alter<br />
von 4, 6 und 8 Jahren wurden den Kindern Bildgeschichten<br />
vorgelegt, in denen der (geschlechtsgleiche) Protagonist<br />
in Versuchung gerät, einfache moralische Normen zu übertreten<br />
(z. B. begehrte Süßigkeiten eines Spielkameraden zu<br />
entwenden). In der Versuchungssituation wurde moralisches<br />
Wissen exploriert (z. B. Darf man die Süßigkeiten nehmen<br />
oder darf man das nicht? Warum/Warum nicht?). Dann wurde<br />
gezeigt, dass der Protagonist die Regel übertritt (z. B.<br />
er nimmt die Süßigkeiten). Moralische Motivation wurde<br />
erfasst durch Emotionszuschreibungen zum Übeltäter (Wie<br />
fühlt sich Protagonist? Warum fühlt er sich so?). Diese Operationalisierung<br />
ist aus einem kognitivistischen Emotionsverständnis<br />
abgeleitet (das gut mit dem existenzanalytischen<br />
zusammenstimmt, vgl. Kolbe in diesem Heft). Danach sind<br />
Emotionen zwar rasche und globale, gleichwohl kognitiv<br />
52 EXISTENZANALYSE 29/2/2012