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WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International

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Plenarvortrag<br />

Die sieben Funktionsebenen der Persönlichkeit<br />

Vor diesem Hintergrund mag die Frage nach der Vereinbarkeit<br />

von phänomenologischen und funktionsanalytischen<br />

Ansätzen in einem neuen Licht erscheinen. Die Würzburger<br />

Schule und das Forschungsprogramm Lewins hatten bereits<br />

deutlich gezeigt, wie sich die Drittperson- und Erstpersonperspektive<br />

vereinbaren lassen. Die beiden auf den ersten<br />

Blick so sehr divergierenden erkenntnistheoretischen Perspektiven<br />

zu vereinbaren, erscheint auch in einem dialogischen<br />

Sinn wünschenswert, wie er von der Personalen Existenzanalyse<br />

als allgemeines Menschenbild vertreten wird.<br />

Aus dieser Sicht wäre zu fragen: Können die beiden Ansätze,<br />

der funktionsanalytische und der phänomenologische,<br />

in einen für beide Seiten fruchtbaren Dialog treten? Ich bin<br />

überzeugt davon, dass das möglich ist (wie erwähnt gäbe<br />

es ohne diesen Dialog die PSI-Theorie nicht). In Bezug auf<br />

die Existenzanalyse möchte ich die Vereinbarkeitshypothese<br />

an einigen Beispielen erläutern. Betrachten wir zunächst<br />

die sieben Funktionsebenen der Persönlichkeit, die in der<br />

PSI-Theorie elaboriert werden: Die drei elementaren Ebenen<br />

(Tabelle 1) der Persönlichkeit sind beschreibbar durch<br />

(1) Gewohnheiten (z. B. intuitive Verhaltenssteuerung durch<br />

einzelne Reiz-Reaktions-Verknüpfungen) und die Wahrnehmung<br />

einzelner Objekte („Objekterkennung“), (2) Temperament<br />

(z. B. Aktivierung und Erregung als unspezifische<br />

Energiequellen für emotionale und kognitive Prozesse) und<br />

(3) positive und negative Affekte, die an spezifische Objekte<br />

(„Anreize“) gebunden sind (z. B. bei Belohnung bzw. Bestrafung).<br />

Hochinferent<br />

(„rational“<br />

progressiv)<br />

Zwischenebene<br />

(Hippocampus)<br />

Elementar<br />

(„irrational“,<br />

regressiv)<br />

Funktionsebenen<br />

(7) Selbststeuerung (Selbstkontrolle<br />

und Selbstregulation)<br />

(6) Analytisches Denken<br />

und ganzheitliches Fühlen<br />

(5) Motive: Leistung,<br />

Beziehung, Macht, freies<br />

Selbstsein<br />

(4) Stressbewältigung (z. B.<br />

Beschönigen, Intellektualisieren,<br />

Aktionismus vs. Selbstkonfrontation<br />

(3) Affekt (z. B. Lust, Freude,<br />

Angst, Trauer)<br />

(2) Temperament (z. B.<br />

aktiv, nervös, ruhig)<br />

(1) Gewohnheiten: Objekterkennung<br />

und Intuitive<br />

Verhaltenssteuerung<br />

Frankl<br />

Das Geistige<br />

(unbew. Quelle)<br />

Sozial-integrierte<br />

& autonome<br />

Moral, Liebe,<br />

Kreativität<br />

Noo-psychische<br />

Schnittstelle<br />

Das Psychische<br />

(Seele)<br />

vgl. Psychologismus<br />

Tab. 1: Die sieben Funktionsebenen der Persönlichkeit (PSI-Theorie)<br />

Die höheren Ebenen der Persönlichkeit sind durch die<br />

folgenden Ebenen charaktersisierbar: (5) assoziative Komplexe<br />

von vorbegrifflichen Kognitionen und Motiven (bedürfnisrelevante<br />

Bilder, Metaphern etc.), (6) begriffliche<br />

Kognitionen (z. B. verbalisierbare Handlungsziele und Absichten)<br />

und (7) der Wille alias Selbststeuerung (oder auch<br />

Volition). Hier auf der höchsten Ebene der Persönlichkeitsorganisation<br />

geht es darum, die Prozesse auf allen Ebenen<br />

der Persönlichkeit so zu koordinieren und zu regulieren,<br />

dass die Vorgaben der höchsten Steuerungsebene (z. B.<br />

willentliche Ziele, Selbstwahrnehmung, Selbstwachstum)<br />

optimiert werden. Wenn z. B. eine Schülerin die Absicht<br />

gebildet hat, nachmittags die etwas unangenehmen Mathematikaufgaben<br />

zu erledigen, dann würde eine intakte Selbststeuerung<br />

z. B. helfen können, negative Gefühle (wie Angst)<br />

herabzuregulieren (Selbstberuhigung) und positive Gefühle<br />

heraufzuregulieren (Selbstmotivierung).<br />

Die Selbstberuhigung ist an der Schnittstelle zwischen<br />

den drei elementaren und den drei höheren Funktionsebenen<br />

der Persönlichkeit relevant. Hier geht es nämlich um<br />

Stressbewältigung (vgl. Tab. 1). Die ist deshalb wichtig,<br />

weil die Interaktion zwischen den höheren und den unteren<br />

Ebenen bei übermäßigem Stress behindert wird. Dann<br />

wird beispielsweise die Selbstwahrnehmung gehemmt oder<br />

der Wille (z. B. in Form der Absicht, sich an die Arbeit zu<br />

machen) kann sich auf der untersten Ebene der intuitiven<br />

Verhaltenssteuerung nicht durchsetzen: Das gewollte Verhalten<br />

kann dann nicht ausgeführt werden, weil spontane<br />

Handlungsimpulse (z. B. Tennis spielen gehen) die Oberhand<br />

gewinnen. Diese Hemmung des Einflusses höherer auf<br />

elementare Ebenen der Persönlichkeit hatte Pierre Janet bereits<br />

bei psychisch Kranken beobachtet und Sigmund Freud<br />

hatte sie mit seinem Regressionsbegriff beschrieben. Heute<br />

lässt sich die neurobiologische Grundlage der Regression<br />

mit der Stressempfindlichkeit des Hippocampus erklären,<br />

der normalerweise (d. h. bei moderatem Stress) den Einfluss<br />

der höheren Ebenen (der Hirnrinde) auf die unteren Ebenen<br />

des Gehirns (z. B. auf Affekte und Gewohnheiten) verstärkt,<br />

ab einem kritischen Stressniveau aber unterbindet (weil der<br />

Hippocampus durch eine Überkonzentration des Stresshormons<br />

Cortisol gehemmt wird).<br />

Die Vereinbarkeit dieses funktionsanalytischen Ansatzes<br />

mit dem phänomenologischen Ansatz Viktor Frankls lässt<br />

sich nun ganz einfach aufzeigen: Die drei unteren Ebenen<br />

entsprechen dem, was er „psychische“ Prozesse genannt hat<br />

(vgl. Tab. 1). Die „psychischen“ Prozesse umfassten in der<br />

Zeit, in der Frankl über die Psychologie sprach, in der Tat<br />

eher die einfachen (elementaren) drei Ebenen der Persönlichkeit.<br />

Die höheren Ebenen lassen sich dem zuordnen, was<br />

in der Existenzanalyse das „Geistige“ genannt wird. Diese<br />

Prozesse wurden zur Zeit Frankls in der naturwissenschaftlich<br />

orientierten Psychologie unzureichend oder gar nicht<br />

untersucht. Schließlich gibt es bei Frankl sogar die Annahme,<br />

dass es so etwas wie eine Schnittstelle zwischen den<br />

geistigen und den „psychischen“ Funktionen geben müsse<br />

(s. Tab. 1: Ebene 4). Er nannte sie die noo-psychische<br />

Schnittstelle. Die PSI-Theorie integriert nun viele Befunde<br />

aus der kognitions- und neuropsychologischen Forschung,<br />

die es ermöglichen, die Subsysteme auf den verschiedenen<br />

Systemebenen sehr detailliert in ihrer Funktionsweise zu<br />

beschreiben. Bevor ich das an Hand von Beispielen näher<br />

erläutere, ist ein Hinweis zur Leib-Seele-Problematik angebracht.<br />

Phänomenologen wie Frankl neigen meist dazu, die<br />

Einzigartigkeit des Selbsterlebens so stark hervorzuheben,<br />

EXISTENZANALYSE 29/2/2012 41

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