WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Symposium: Theologie und Seelsorge<br />
mache, verharren sie in der menschlichen Immanenz, und<br />
die Wesenslehre erstarre zu einem Anthropologismus. Wenn<br />
die Existenzphilosophie das Angelegtsein menschlicher Existenz<br />
auf Transzendenz hin ausklammere, erstarre sie zum<br />
Existenzialismus (ebd., 221).<br />
Auf dem letzten Kongress in Lindau hat Alfried Längle<br />
(2011) die inhärente Spiritualität der Existenzanalyse ausführlich<br />
beschrieben. Darin hebt er zwei Gedanken hervor,<br />
durch die Frankl den Dialog zwischen Spiritualität und<br />
Psychotherapie befruchtet habe. Ganz im Sinne seines Antipoden<br />
Freud habe Frankl darauf Wert gelegt, unbewusste<br />
Religiosität bewusst zu machen. Nicht umsonst heißt eines<br />
seiner Hauptwerke „Der unbewusste Gott“. Die Frage nach<br />
dem Sinn könne manche auch zur religiösen Frage, zur<br />
Frage nach Gott führen. Bei der Analyse der existenziellen<br />
Grundmotivationen erkennt Frankl innerhalb der „unbewussten<br />
Geistigkeit des Menschen“ auch eine „unbewusste<br />
Religiosität“ im Menschen.<br />
Damit belegt er die Transzendenzbezogenheit des Menschen<br />
und die psychotherapeutische Relevanz unbewusster<br />
Religiosität und Spiritualität. Obwohl Frankl als ein Schulengründer<br />
humanistischer Psychotherapie gilt, richtet er<br />
kritische Bemerkungen an seine Kollegen. Ohne Bezug zu<br />
Transzendenz sei der Humanismus kein Humanismus mehr.<br />
Wenn der Mensch alles sei, werde der Humanismus zum Nihilismus<br />
und lasse keinen Platz für den Sinn im Leiden.<br />
Frankl beantwortet die Sinnfrage religiös. Damit steht er<br />
in der Tradition humanistischer Verfahren relativ allein da,<br />
weil dort Institutionen- und Kirchenkritik zum guten Ton<br />
gehören. Hilfreich ist an dieser Stelle die Unterscheidung<br />
von Sinnkonstruktivismus und Sinnrelativismus (Noyon<br />
& Heidenreich 2012, 76ff). Existenziell orientierte Therapeuten<br />
haben häufig Probleme damit, einen absoluten Sinn<br />
und damit Gott vorauszusetzen. Wenn „sich der Lebenssinn<br />
des Menschen aus einem göttlichen Plan ergibt, beraubt dieser<br />
Plan den Menschen seiner Entscheidungsfreiheit“ (ebd.,<br />
77). Die Perspektive des Sinnkonstruktivismus kritisiert<br />
diese Einengung und arbeitet mit der therapeutischen Idee<br />
des “Selbsterschaffens“ eines das Leben tragenden Sinns.<br />
Demgegenüber gehe Frankl von einem Sinnobjektivismus<br />
aus. Demnach ist Sinn a priori gegeben, und die ihm zugeordneten<br />
Werte vermitteln sich im Aufforderungscharakter<br />
von Lebenssituationen.<br />
Noyon und Heidenreich betonen, dass eine sinnobjektivistische<br />
Position ohne Gott oder eine andere höhere Instanz<br />
nicht auskommt. Sie sei eine Position des Glaubens,<br />
die rational nicht beweisbar sei. Die Therapeuten erinnern<br />
daran, dass sich ein enormer Teil der Weltbevölkerung in<br />
einem religiösen Glauben geborgen, orientiert, getragen und<br />
ausgerichtet fühlt. Unter dieser Voraussetzung erhalten konkrete<br />
Handlungen im Leben eine völlig andere Bedeutung,<br />
da sie im Kontext des geglaubten Absoluten auch einen<br />
„wirklichen Sinn“ besäßen. Behandlungstechnisch erinnern<br />
sie an die therapeutische Aufgabe, „den konkreten Glauben<br />
des Klienten zu erfassen und diesen als Rahmen für das therapeutische<br />
Handeln nutzbar zu machen“ (ebd., 84).<br />
Die Reflexion und Transparenz der eigenen Glaubensüberzeugungen<br />
ist heute zu einem wichtigen Thema psychotherapeutischer<br />
Weiterbildung geworden. Die Auseinandersetzung<br />
mit der eigenen Spiritualität ist zu einem neuen<br />
Arbeitsfeld von Selbsterfahrungsgruppen geworden, die um<br />
folgende Themen kreisen:<br />
••<br />
Fühle ich mich einer Kraft/ Macht verbunden, die größer<br />
ist als ich?<br />
••<br />
Was gibt meinem Leben Sinn?<br />
••<br />
Woran glaube ich?<br />
••<br />
Worauf hoffe ich?<br />
••<br />
Wen liebe ich und wer liebt mich?<br />
••<br />
Wie binde ich meine spirituelle Haltung in berufliche<br />
Praxis ein?<br />
In Vorgesprächen mit Patienten sind heute in der Regel<br />
einige Fragen zur spirituellen Anamnese enthalten. In der<br />
Palliativversorgung werden Pflegende und Ärzte in professioneller<br />
„Spiritual Care“ ausgebildet, durch die kompetenter<br />
auf die spirituellen Bedürfnisse der Patienten eingegangen<br />
werden kann (Koenig 2012).<br />
Pionierarbeit Frankls<br />
Durch die Einbeziehung der Spiritualität wird eine wichtige<br />
Behandlungslücke geschlossen. Frankl hat auf diesem<br />
Gebiet Pionierarbeit geleistet. Schon im Wintersemester<br />
1949/1950 hielt Frankl eine Vorlesung an der Universität<br />
Wien mit dem Titel „Ontologie des leidenden Menschen“. In<br />
der Vorbemerkung zur 2. Auflage der publizierten Vorlesung<br />
gibt der Autor zu, dass seine Ausführungen die anthropologischen<br />
Grundlagen der Psychotherapie auf theologische<br />
Grenzfragen hin erweitern und überschreiten.<br />
Zur Klärung wiederholt er früher Gesagtes: „In der Psychotherapie<br />
kann Religion nur ein Gegenstand sein, nicht<br />
aber ein Standort.“ Frankl grenzte sich also auch hier gegen<br />
jegliche Form religiöser Psychotherapie ab. Dennoch machte<br />
er selber aus seinem persönlichen Glauben keinen Hehl. In<br />
seiner „Ärztlichen Seelsorge“ erläutert er seine Gotteserfahrung,<br />
die er als Jugendlicher selber leidvoll durchlebt hat. Er<br />
definiert Gott „als [den] Partner unserer intimsten Selbstgespräche“<br />
(Frankl 1984, 219). Was einer in seiner äußersten<br />
Einsamkeit und damit auch letzten Ehrlichkeit sich selbst<br />
gegenüber bedenke, das alles spreche er eigentlich zu Gott.<br />
Danach zitiert Frankl die Beschreibung der Gottessuche des<br />
Kirchenvaters Augustinus aus seinen berühmten „Bekenntnissen“<br />
auf Latein: „Tibi loquitur cor meum“, „Schon immer<br />
sprach mein Herz mit dir.“ <strong>–</strong> Auf der Grundlage seiner frühen,<br />
eigenen Erfahrungen verstand Viktor Frankl das Selbstgespräch<br />
als Ausdruck latenter Spiritualität und unbewusster<br />
Gottverbundenheit des Menschen.<br />
Auf originelle Weise hat Frankl Psychologie und Glauben<br />
verbunden. Seine Religionspsychologie gründet nicht auf<br />
rationalen Überlegungen, sondern Frankl begründet Glauben<br />
emotional! „Gilt es, dem Andern einen Weg zu Gott zu<br />
weisen, so können wir nicht vom Rationalen, sondern müssen<br />
vom Emotionalen ausgehen.“ (Frankl ebd., 233) Zwei<br />
Phänomene, nämlich tiefe Gefühle von Sehnsucht und Liebe,<br />
würden den Menschen auf Gott hinweisen: „Am Grunde<br />
unseres Seins liegt eine Sehnsucht, die dermaßen unstillbar<br />
ist, dass sie gar nichts anderes meinen kann als Gott.“ (Frankl<br />
ebd., 233) Glaube versteht Frankl als das Zusammenspiel von<br />
Sehnsucht und Liebe. So wie Durst auf die Existenz von Wasser<br />
verweise, könne die Existenz Gottes angenommen werden.<br />
110 EXISTENZANALYSE 29/2/2012