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WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International

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Plenarvortrag<br />

Schlussbemerkung<br />

Auf der Suche nach Geschlechtsunterschieden im Wollen<br />

und Lassen haben wir drei Muster gefunden:<br />

1. Auf der Stufe des unmittelbaren Wollens gibt es <strong>–</strong> vermutlich<br />

biologisch basierte <strong>–</strong> Geschlechtsunterschiede:<br />

Bei Aggressivität und Sexualität ist das männliche Aktivitätsniveau<br />

- im Sinne der Titelfrage <strong>–</strong> in der Tat im<br />

Schnitt höher. Für das Ausagieren dieser Dispositionen<br />

aber haben kulturelle Einflüsse eine vielfach stärkere Erklärungskraft<br />

<strong>–</strong> so bei den Mordraten <strong>–</strong> oder bewirken<br />

gar eine Verkehrung ins Gegenteil <strong>–</strong> so bei der männlichen<br />

Bindungsangst, die sich in einer Einschränkung<br />

der Kraft des Wollens selbst niederschlägt.<br />

2. Auf der zweiten Stufe des Wollens, auf der Personen zu ihren<br />

natürlichen Dispositionen und spontanen Strebungen<br />

Stellung nehmen, zeigen sich keine Geschlechtsunterschiede<br />

in der Struktur des Wollens: Die Frage, ob Normbefolgung<br />

durch kulturelle Prägungen verursacht oder in<br />

ich-naher Selbstbindung gründet, ist durch die Generations-<br />

und nicht die Geschlechtszugehörigkeit bestimmt.<br />

Auch auf der zweiten Stufe des Lassens, auf der Personen<br />

zu schicksalhaften Widerfahrnissen Stellung nehmen, gibt<br />

es keine Geschlechtsunterschiede: Das sinnorientierte<br />

Lassen ist durch die <strong>–</strong> kulturspezifisch unterschiedlich<br />

stark angeregte <strong>–</strong> persönliche Religiosität bestimmt.<br />

3. Es gibt kulturell induzierte Geschlechtsunterschiede:<br />

Eine hohe Identifikation mit dem männlichen Geschlechtsstereotyp<br />

führt ab der Adoleszenz zu einem<br />

Abbau moralischer Motivation, also zu einem Wandel in<br />

den inhaltlichen Präferenzen selbstbestimmten Wollens.<br />

Und aufgrund weiblicher Geschlechtsrollenerwartungen<br />

agieren Mädchen und Frauen ihre aggressiven Impulse<br />

eher indirekt, als Beziehungsaggression, aus.<br />

Nun erlauben die exemplarisch herangezogenen Befunde<br />

keine statistisch gesicherte eindeutige Antwort auf<br />

die Ausgangsfrage. Gleichwohl ist bemerkenswert, dass in<br />

den diskutierten Beispielen die biologisch fundierten Geschlechtsdifferenzen<br />

ein geringeres Gewicht haben als die<br />

kulturell induzierten. Kulturell induziert sind Unterschiede,<br />

die durch die Annahme, es gäbe natürliche Geschlechtsdifferenzen,<br />

sozial erzeugt werden. Inhaltlich schlagen diese<br />

sich in Unterschieden im männlichen und weiblichen Geschlechtsstereotyp<br />

nieder. Sofern nun Stereotype nicht nur<br />

einen deskriptiven, sondern auch einen normativen Gehalt<br />

haben, können sie handlungsleitende und präferenzbestimmende<br />

Kraft entfalten. Der Wunsch nach „Normalität“ kann<br />

sich dann in den Wunsch umsetzen, ein „richtiger Mann“, eine<br />

„richtige Frau“ zu sein. Aus gesellschaftlicher Sicht ist dies<br />

nicht immer ein Gewinn. Die geringere Moralbindung junger<br />

männlicher Erwachsener ist dafür ein Beispiel. Ich möchte ein<br />

Gegengift vorschlagen: Es gilt ein Bewusstsein für die starke<br />

historische Variabilität der Inhalte der Geschlechterstereotypen<br />

zu wecken. Ein Beispiel: Heute schreibt die Soziobiologie<br />

der Frau universell eine natürlich begründete Fürsorglichkeit<br />

zu. In mittelalterlichen Traktaten liest sich das anders.<br />

So etwa erklärt Capellanus (1160-1220): „Nie hat eine Frau<br />

einen Mann geliebt oder sich an ihn in wechselseitiger Verpflichtung<br />

gebunden. Denn das Begehren der Frau richtet<br />

sich darauf, durch die Liebe reich zu werden, nicht ihrem Geliebten<br />

den Trost zu spenden, der ihn erfreut. Das muss nicht<br />

verwundern, denn das ist natürlich. Gemäß der Natur ihres<br />

Geschlechts sind alle Frauen befleckt durch Raffgier und ein<br />

habsüchtiges Naturell und allzeit sind sie aufmerksam und hingebungsvoll<br />

auf der Suche nach Geld und Profit“ (1960, 201).<br />

Und bei Marbod de Rennes (1035-1123) heißt es: „Die Frau<br />

<strong>–</strong> elende Quelle, üble Wurzel, verderbter Sprössling <strong>–</strong> bringt<br />

in der ganzen Welt Gräueltaten hervor. Denn sie stiftet Hader,<br />

Streit und schlimme Zwietracht; erregt Zwist zwischen alten<br />

Freunden, spaltet Bindungen, zerrüttet Familien. Aber das sind<br />

nur Bagatellen: Sie vertreibt Könige und Prinzen vom Thron,<br />

zettelt Kriege zwischen den Völkern an, stürzt Gemeinden in<br />

Aufruhr, zerstört Städte, vervielfältigt Schlachten, braut tödliches<br />

Gift. In ihrem Amoklauf schleudert sie Feuersbrunst auf<br />

Gehöfte und Felder. Kurz: Es gibt kein Übel im Universum,<br />

an dem die Frau nicht teilhat.“ Solches Verhalten zeugt nicht<br />

gerade von einer naturgegebenen weiblichen Passivität und<br />

Submissivität. Das klingt doch eher wie eine Gegenthese zur<br />

Titelfrage: Ist Wollen männlich, Lassen weiblich?<br />

Literatur<br />

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EXISTENZANALYSE 29/2/2012 55

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