WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Plenarvortrag<br />
gehaltvolle Urteile über die subjektive Bedeutsamkeit eines<br />
Sachverhalts (vgl. Solomon 1976, Montada 1993). Mit ihrer<br />
Emotionszuschreibung zeigen die Kinder an, welchem der<br />
beiden zugleich zutreffenden Sachverhalte <strong>–</strong> der Protagonist<br />
hat eine Regel übertreten und sein Bedürfnis befriedigt <strong>–</strong> sie<br />
größeres Gewicht beimessen.<br />
So gut wie alle Kinder wussten bereits mit 4 Jahren, dass<br />
man nicht stehlen darf. Die meisten begründeten dies mit<br />
deontologischen Argumenten (z. B. „stehlen ist böse“, „der<br />
ist ein Dieb“). Schon früh verfügen Kinder also <strong>–</strong> entgegen<br />
Kohlbergs (1984) Charakterisierung des präkonventionellen<br />
Moralbewusstseins als rein instrumentalistisch <strong>–</strong> über ein<br />
intrinsisches, i.e. autoritäts- und sanktionsunabhängiges,<br />
Verständnis moralischer Normen (vgl. Turiel 1983, Weyers<br />
et al. 2007). Wie steht es mit der moralischen Motivation?<br />
80% der 4-Jährigen antworteten auf die Frage, wie<br />
der hypothetische Übeltäter sich fühle, etwa so: „Gut <strong>–</strong> die<br />
Süßigkeiten schmecken klasse, verstehst du.“ Dies ist ein<br />
überraschender, gleichwohl robuster Befund (vgl. Nunner-<br />
Winkler&Sodian 1988), der unter dem Etikett „happy victimizer<br />
phenomenon“ mittlerweile vielfach repliziert wurde<br />
(für einen Überblick vgl. Arsenio et al. 2006, Krettenauer<br />
et al. 2008, Nunner-Winkler i.Dr.) und amoralisches Verhalten<br />
(z. B. Mogeln, Mobben, Aggressivität, Delinquenz) gut<br />
vorhersagt. Im Alter von 17 und 22 Jahren wurden die Befragten<br />
bei mehreren moralischen Konflikten um begründete<br />
Handlungsentscheidungen sowie Emotionszuschreibungen<br />
zum Selbst in der Rolle des Handelnden sowie in der Gegenrolle<br />
des fiktiven Opfers gebeten. Anhand der offenen Antworten<br />
schätzten dann zwei unabhängige Rater die Stärke<br />
der moralischen Motivation ein. Die Längsschnittanalysen<br />
zeigen: Im Schnitt nimmt die moralische Motivation kontinuierlich<br />
und stetig über die erhobene Zeitspanne zu. Der<br />
Prozentsatz moralisch Indifferenter sinkt von fast 80% bei<br />
den 4-Jährigen auf knapp unter 20% bei den 22-Jährigen.<br />
Die Individualverläufe allerdings entsprechen nicht der steigenden<br />
Zunahme des Durchschnittswertes: Zwischen 8-17<br />
Jahren erfahren 29% und zwischen 17 und 22 Jahren 20%<br />
der Befragten eine Einbuße an moralischer Motivation.<br />
Wie sieht es mit Geschlechtsdifferenzen aus? Im Alter<br />
von 4 und 6 Jahren unterscheiden sich Jungen und Mädchen<br />
nicht. Die soziobiologische Annahme, es gäbe von<br />
Anbeginn an genetisch fundierte Unterschiede (vgl. Held<br />
1987), wird also durch die Daten nicht gestützt. Auch die<br />
von Gilligan&Wiggins (1987) vorgetragenen psychoanalytisch<br />
begründeten Annahmen finden keine Bestätigung: Es<br />
zeigt sich keine „frühe moralische Weisheit“, die beiden Geschlechtern<br />
aus der primären Identifikation mit der gebenden,<br />
gewährenden Mutter erwachsen sollte. Und es zeigt sich<br />
kein Abfall der Jungen in der ödipalen Phase, der aus ihrer<br />
Ablösung von der Mutter und der Abgrenzung des eigenen<br />
Selbst resultieren sollte. Erst ab 8 Jahren zeigen sich leichte<br />
Differenzen zugunsten der Mädchen, die sich im Verlauf der<br />
weiteren Entwicklung deutlich verstärken <strong>–</strong> vor allem deshalb,<br />
weil der Abbau moralischer Motivation hauptsächlich<br />
bei Jungen vorkommt. Dieser Befund lässt sich soziologisch<br />
erklären <strong>–</strong> unter Rückgriff auf Geschlechterstereotype.<br />
Bei den nunmehr 22-jährigen Probanden wurden diese<br />
zusammen mit dem eigenen „idealen Selbst“ erhoben: Bei<br />
15 vorgegebenen Merkmalen hatten die Befragten einzuschätzen,<br />
für wie typisch sie diese für einen „richtigen Mann“,<br />
„eine richtige Frau“ und für wie wünschenswert für das eigene<br />
„ideal Selbst“ hielten. Dabei wurden den Männern deutlich<br />
häufiger moralabträgliche (z. B. „durchsetzungsfähig“,<br />
„kann Fehler nicht zugeben“, „will cleverer sein als andere“),<br />
den Frauen moralförderliche Eigenschaften zugeschrieben<br />
(z. B. „hilfsbereit“, „verständnisvoll“, „kompromissbereit“).<br />
Geschlechterstereotypen sind kollektiv geteilte Annahmen.<br />
Entscheidender als solch bloß „kaltes“ Wissen ist die Bereitschaft,<br />
es handlungsleitend zu machen. Geschlechtsidentifikation<br />
wurde durch die Ähnlichkeit der Profile „ideales<br />
Selbst“ und entsprechendes „Geschlechtsstereotyp“ bestimmt<br />
und dann mit moralischer Motivation korreliert. Nun zeigte<br />
sich: Jungen und Mädchen mit niedriger Geschlechtsidentifikation<br />
unterscheiden sich nicht; unter den hoch Identifizierten<br />
hingegen gibt es deutlich mehr moralisch indifferente Jungen<br />
und hoch motivierte Mädchen. Die moralabträgliche Wirkung<br />
der männlichen Geschlechtsidentifikation konnte (in offenen<br />
Befragungen) in einer Untersuchung von 200 15-16-Jährigen<br />
bestätigt werden (vgl. Nunner-Winkler et al. 2006)<br />
Nun verlangt die moderne Minimalmoral ja in erster Linie<br />
die Unterlassung schädigender Handlungen. Man könnte<br />
also meinen, die Mädchen schnitten einfach dank ihrer Passivität<br />
besser ab <strong>–</strong> nach dem Motto: „Wer nichts tut, macht<br />
keine Fehler.“ Doch bei den meisten der vorgelegten Konflikte<br />
(z. B. einem Unschuldigen beizustehen, einen Fund<br />
zurückzuerstatten) erforderte die moralische Lösung ein<br />
Tun, nicht bloßes Unterlassen, wobei das Tun kostenreich,<br />
das Unterlassen einfach und profitabel war. Die Geschlechterdifferenz<br />
in der moralischen Motivation spiegelt also keineswegs<br />
eine weibliche Tendenz wider, alles zu belassen,<br />
sondern ganz im Gegenteil die Bereitschaft, eigene moralische<br />
Überzeugungen in aktives Tun zu übersetzen. Die<br />
Stärke moralischer Motivation liefert also ein Beispiel für<br />
eine weibliche Überlegenheit auf der zweiten Stufe des Wollens.<br />
Daraus folgt jedoch nicht, dass selbstbestimmtes Wollen<br />
sich bei Männern prinzipiell seltener findet. Schließlich<br />
besetzen sie die meisten Spitzenpositionen in Politik, Wirtschaft,<br />
Wissenschaft. Und das Verfolgen von Karrierezielen<br />
setzt wie die Bindung an Moral die Fähigkeit zum Befriedigungsaufschub<br />
voraus. In der Tat fanden (38) einschlägige<br />
Studien in dieser Fähigkeit keine Geschlechtsunterschiede<br />
(vgl. Hyde 2005). Die Variable „Stärke moralischer Motivation“<br />
illustriert also nicht Unterschiede in der Struktur des<br />
Wollens, sondern in inhaltlichen Präferenzen. Diese sind<br />
allerdings durch soziale Rollenerwartungen geschlechtsspezifisch<br />
präformiert.<br />
Verankerung moralischer Motivation: Die Art der Verankerung<br />
moralischer Motivation in der Person gibt Hinweise<br />
auf die Struktur des Wollens. Ist Normbefolgung mit Gründen<br />
selbst bestimmt oder durch ein rigides Über-Ich oder eine früh<br />
habitualisierte Konformitätsdisposition bloß bewirkt? Die Daten<br />
wurden in einem Generationenvergleich erhoben, an dem<br />
je 100 repräsentativ ausgewählte 65-75-, 40-50-, 20-30-jährige<br />
sowie 17-jährige LOGIK-Teilnehmer teilnahmen (vgl.<br />
Nunner-Winkler 2000, 2008). Die Probanden wurden zunächst<br />
offen, dann anhand standardisierter Vorgaben gefragt,<br />
wie sie sich fühlen würden, hätten sie ein gravierendes Vergehen<br />
begangen <strong>–</strong> Testamentsbetrug bzw. bei den LOGIK-Probanden<br />
eine erschwerte Fundunterschlagung. Eine Faktoren-<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 53