WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Symposium: Theologie und Seelsorge<br />
Die Sünde, sagt Luther, betrifft das Herz des Menschen,<br />
sie führt zu einer grundsätzlichen Unordnung des menschlichen<br />
Willens, der sich dann als Ich-Wille zeigt, um sich<br />
gegen Gott zu stellen und so als Unglaube dasteht. Ohne<br />
Gottes Eingreifen ist der Mensch ein „homo incurvatus in<br />
se“, ein in sich verkrümmter Mensch, der alles Gute, auch<br />
das geistlich Gute nur auf sich persönlich hin anwendet und<br />
nutzt. Anders gesagt: Ohne Gottes Gnade sucht der Mensch<br />
nicht Gott und seinen Mitmenschen, sondern immer nur sich<br />
selbst. Existenzanalytisch gesprochen heißt das: Es fehlt<br />
ihm die Offenheit, die Ansprechbarkeit, die Möglichkeit<br />
sich einzulassen und bei anderem zu sein.<br />
Von diesem grundlegenden Schaden kann er nur durch<br />
den Glauben an Christi Erlösung und durch das Eingreifen<br />
des Heiligen Geistes geheilt werden. Dies zu betonen ist für<br />
Luther aus zwei Gründen eminent wichtig: Erstens weil es<br />
keine Abhängigkeit von menschlicher Leistung im Blick<br />
auf das Heil bei Gott geben darf. Gäbe es die, dann gäbe es<br />
nie wirkliche Gewißheit im Glauben an Gottes Liebe und<br />
Barmherzigkeit. Und zweitens weil eine solche menschliche<br />
Leistung die Erlösung durch Christus letztendlich überflüssig<br />
machen würde. Der verdorbene, korrumpierte Wille des<br />
Menschen muß also durch Gottes Initiative befreit werden,<br />
um sich so ausrichten zu können, wie er von Gott im Ursprung<br />
gewollt war. Aber was versetzt den verkrümmten,<br />
auf sich fixierten Menschen überhaupt in den Stand, sich<br />
auf die Anrede Gottes einlassen zu können? Hier gesteht<br />
Luther dem Menschen doch eine passive Tauglichkeit zu<br />
und formuliert: „Wenn wir die Kraft des freien Willens diese<br />
nennen würden, durch welche der Mensch tauglich ist, vom<br />
Geiste Gottes ergriffen und von der Gnade Gottes erfüllt zu<br />
werden,..., so wäre das richtig gesagt“ (Lohse 1995, 273).<br />
Durch diese Fähigkeit, durch die aptitudo passiva, die den<br />
Menschen vor allen anderen Geschöpfen auszeichnet, ist er<br />
prinzipiell auch offen für Gottes Gnadenangebot.<br />
Abschließende Würdigung<br />
Auch wenn Erasmus und Luther seinerzeit zu keinem<br />
Konsens fanden, braucht man sie heute nicht mehr gegeneinander<br />
auszuspielen. Beiden gemeinsam ist, daß sie sich<br />
gegen ein deterministisches Menschenbild wenden. Auch<br />
wenn es immer darum geht, Gottes Vorherwissen und Verursachen<br />
zu betonen sowie die Macht der Sünde umfassend zu<br />
denken, wird gleichzeitig festgehalten, daß der Mensch nicht<br />
nur Spielball ist, sondern mit innerer Zustimmung an seinem<br />
Handeln beteiligt ist. Er erlebt sich nicht nur als fremdbestimmt,<br />
sondern aus eigenem Willen heraus handelnd.<br />
Das Verdienst Luthers liegt m. E. darin, gespürt zu haben,<br />
daß die Ausrichtung menschlichen Willens bereits im<br />
Ansatz völlig verdreht sein kann. Im Blick auf die Werte,<br />
denen sich der religiöse Mensch zuwendet wie Gott, Glaube,<br />
ethisches Handeln, Umgang mit Schuld, gelingende Beziehungen<br />
zum Mitmenschen, Vertrauen, Selbstannahme,<br />
Akzeptanz der Endlichkeit, Hoffnung auf einen bleibenden<br />
Sinn über den Tod hinaus u. m. m., zeigen sich nicht selten<br />
große innere Nöte und Ängste, die durch religiöses Tun<br />
kompensiert werden sollen, aber nicht tatsächlich bewältigt<br />
werden.<br />
Luther selbst war dafür ein treffendes Beispiel, solange<br />
er vergeblich Glaubensgewißheit suchte durch einen überhöhten<br />
Leistungsanspruch und selbstzerstörerische Skrupulanz.<br />
So manches in der religiösen Praxis dient auch heute<br />
im letzten dazu, Gott für die eigenen Wünsche und Bedürftigkeiten<br />
zu funktionalisieren. Das ist recht eigentlich der<br />
tiefste Kern der Sünde, nämlich Gott nicht Gott sein zu lassen.<br />
Zum anderen wirkt es keine Heilung für eine verletzte<br />
Seele. Damit sich der Mensch aus seiner Verkrümmung<br />
aufrichten kann, braucht es immer auch die Ansprache von<br />
außen, denn niemand kann sich selbst erlösen. Dieses Angesprochen-Werden,<br />
in welcher Form auch immer, hat stets<br />
auch etwas Zufallendes, Unverfügbares und damit religiös<br />
gesprochen Gnadengewirktes, das eine Neuausrichtung des<br />
Wollens und Strebens im personalen Sinne ermöglicht, weil<br />
durch ein gelungenes dialogisches Geschehen innere Konflikte<br />
befriedet werden und sich jemand neu auf das Wertvolle<br />
richtet, nun nicht mehr auf sich selbst fixiert, sondern<br />
sich offen einlassend.<br />
Literatur<br />
Augustinus A (~ 428/1980) Confessiones. München: Kösel<br />
Augustinus A (~ 395/1941) Der freie Wille. Paderborn: Schöningh<br />
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers (1985). Stuttgart: Deutsche<br />
Bibelgesellschaft<br />
Erasmus (1524) Abhandlung über den freien Willen. In: Obermann H (Hg.)<br />
Die Kirche im Zeitalter der Reformation. Neukirchen-Vluyn:<br />
Neukirchener, 115-118<br />
Heimsoeth H (1981) Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik<br />
und der Ausgang der Mittelalters. Darmstadt: Wissenschaftliche<br />
Buchgesellschaft<br />
Keil G (1985) Philosophiegeschichte I. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz: Kohlhammer<br />
Längle A (2000) Wille. Lexikon der Existenzanalyse und Logotherapie,<br />
45-46<br />
Lohse B (1988) Epochen der Dogmengeschichte. Stuttgart: Kreuz<br />
Lohse B (1995) Luthers Theologie. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht<br />
Lohse B (1982) Martin Luther. München: Beck<br />
Luther M (1525) Vom unfreien Willen. In: Aland K (Hg.) Die Werke Luthers<br />
in Auswahl. Stuttgart: Klotz, 151-334<br />
Möhle H (2009) Wille.I.Philosophisch-anthropologisch.Lexikon für Theologie<br />
und Kirche 10, 1203-1205<br />
Pöhlmann HG (1985) Abriß der Dogmatik. Gütersloh: Mohn<br />
Theißen G (1983) Psychologische Aspekte paulinischer Theologie. Göttingen:<br />
Vandenhoeck &Ruprecht<br />
Anschrift der Verfasserin:<br />
Pfr.in Wiebke Dankowski<br />
Langster Straße 32<br />
D-40668 Meerbusch<br />
wiebke.dankowski@freenet.de<br />
108 EXISTENZANALYSE 29/2/2012