WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Klinisches Symposium<br />
Pflegende helfen allgemein dem Betroffenen, eine neue<br />
Struktur zu finden, damit er Halt findet, auf den Weg kommt<br />
und lernt, mit dem Neuen, Unbekannten umzugehen bzw.<br />
sich darauf einzustellen. Wollen muss er selbst es, das können<br />
wir für ihn nicht tun. Diese Möglichkeit hat der Demente<br />
zunehmend nicht mehr und ist damit seinen Gefühlen in diesem<br />
Moment ausgesetzt. Raum, Halt, Schutz, die Bastionen<br />
gegen die Angst, sind immer wieder eingeschränkt, in Frage<br />
gestellt, durchlöchert. Ein Demenzkranker kann die besagte<br />
Strukturierung nicht mehr vornehmen. Im Gegenteil: Die<br />
Pflegenden finden das Verhalten von Demenzkranken oft<br />
sehr herausfordernd, weil sie deren eigenes Trachten nach<br />
Strukturierung und Generalisierung erschweren.<br />
Aber wir brauchen diese Struktur in der Pflege, denn es<br />
wird täglich, vielleicht sogar stündlich anders sein, als wir es<br />
uns vorgenommen resp. gedacht haben. Und wenn wir nicht<br />
eine gemeinsame Grundlage für unser Tun haben, dann<br />
wissen wir bei dem ständigen Wechsel von Prioritäten und<br />
auch der Anforderungen von außen nach zwei Tagen selbst<br />
nicht mehr, was wir eigentlich wollen. Daher strukturieren,<br />
planen wir heutzutage die Pflege, und zwar möglichst interdisziplinär<br />
und mit den Angehörigen. Dabei versuchen wir,<br />
je nach Kenntnislage die Biographie des Menschen in den<br />
Mittelpunkt zu stellen, aber auch das Bewusstsein, dass dieser<br />
Mensch einzigartig ist, ein gefülltes Leben in die jetzige<br />
Lebenssituation mitbringt und dem mit Respekt begegnet<br />
werden muss.<br />
In der Pflege können wir, was ein großer Vorteil ist, körperliche<br />
Nähe herstellen, was sich oft als hilfreich im Umgang<br />
mit verängstigten Patienten erweist. Dies ist eine wichtige<br />
Einflussgröße bei der Pflege demenzkranker Menschen:<br />
die Hand nehmen, in den Arm nehmen, Rücken streicheln,<br />
<strong>–</strong> das alles kann entängstigend wirken, ist wenig und doch<br />
viel; aber auch nicht immer, wie es grundsätzlich in der Pflege<br />
Demenzkranker kein „Das-geht-immer-so“ gibt. Im einen<br />
Moment kann meine Nähe erwünscht sein, im nächsten<br />
wird sie schroff abgelehnt.<br />
Widersprüchliche Anforderungen<br />
Wollen wir die geplante Pflege nun umsetzen, dann müssen<br />
wir Anforderungen unterschiedlicher Seiten gerecht<br />
werden, die sich nicht selten widersprechen.<br />
Wenn zum Beispiel eine Bewohnerin ungern Körperpflege<br />
zulässt, dann wissen wir als Pflegende zunächst, dass im<br />
Bereich der aktiven Pflege das größte Unwohlsein für die<br />
Betreffende entsteht, weil hier Dinge mit ihr geschehen, die<br />
sie nicht mehr einordnen kann. Sie lehnt also die Pflege, teilweise<br />
durchaus tatkräftig, ab. Das ist zu respektieren, also<br />
versuche ich es später am Tage noch einmal. Häufig entsteht<br />
die Ablehnung aus einer aktuellen Gefühlslage heraus, die<br />
schon nach 10 Minuten eine ganz andere sein kann. Respektieren<br />
wir aber das Bedürfnis der Bewohnerin, dann stehen<br />
wir Angehörigen gegenüber, die die Weigerung der Mutter<br />
nicht verstehen, da sie ihre Mutter so nicht kennen, ungepflegt,<br />
ungewaschen noch am Nachmittag.<br />
Demenz verändert den Menschen. Daraus ergeben sich<br />
oft Missverständnisse, die in langen Gesprächen ausgeräumt<br />
werden müssen. Und nicht selten kommt auch der Vorwurf, die<br />
pflegenden Angehörigen oder das pflegende Personal würden<br />
sich nicht ausreichend kümmern.<br />
Noch deutlicher wird dies bei den gesetzlich-behördlichen<br />
Anforderungen. Hier wird sehr konkret festgelegt,<br />
in welchem körperlichen Zustand sich ein Patient befinden<br />
muss. Wenn die oben erwähnte Bewohnerin die Pflegehandlung<br />
ablehnt und wir die Pflegehandlung aufschieben, wird<br />
das ein Pflegefehler, wenn es nicht umfassend dokumentiert<br />
wird.<br />
Was tun wir, wenn ein dementer Mensch Essen und Trinken<br />
ablehnt, wenn Pflegemaßnahmen durchgeführt werden<br />
müssen, wie die Reinigung nach der Ausscheidung? Was ist<br />
dann richtig? Was tun und was lassen?<br />
Genauso schwierig gestaltet sich die Situation, wenn ein<br />
Kranker nach außen deutlich seine Angst zeigt (mimisch,<br />
gestisch, durch Rufe oder Schreie) und ich auf ihn zugehen<br />
will, seine Hand nehmen und ihn beruhigen, und ich werde<br />
zurückgestoßen, durchaus körperlich. Ich will helfen und<br />
werde zurückgestoßen. Das nicht als persönliche Kränkung<br />
zu nehmen, bedarf langer Erfahrung, Geduld und eine gehörige<br />
Portion Menschenliebe.<br />
Wollen und können wir <strong>–</strong> die Pflegenden <strong>–</strong><br />
dies leisten?<br />
Pflege, und gerade die Pflege von demenzkranken Menschen,<br />
setzt eine hohe Reife und großes Selbst-Bewusstsein<br />
voraus. Kidwood nennt einige Eigenschaften, welche die<br />
Pflegekraft mitbringen soll: innere Ruhe, Empathie, Flexibilität,<br />
Stabilität, Ungezwungenheit in der Kontaktaufnahme<br />
sowie hohe Belastbarkeit. Die Betreuungsperson muss „sich<br />
selbst wohlfühlen, offen und flexibel sein und nicht als kontrollierendes<br />
Elternteil agieren“ (Kitwood 2000).<br />
Aber: Wer kann das leisten? Wer ist so? Wer bringt diese<br />
Fähigkeiten mit und die entsprechende Motivation <strong>–</strong> bei<br />
einem Lohn von z.T. 7,50 Euro die Stunde? Wie kommt die<br />
Pflegekraft zum notwendigen Wollen, um einen humanen<br />
Umgang mit dieser herausfordernden Patientengruppe zu<br />
gewährleisten? Diese Fragen können an dieser Stelle nur zur<br />
Betrachtung angerissen werden.<br />
Wollen und Können in der Demenz<br />
Wie ist es aber nun um den Willen demenzkranker<br />
Menschen aus pflegerischer Sicht bestellt? Gibt es für den<br />
Kranken ein Wollen mit stark eingeschränktem Können, mit<br />
verloren gegangenen Fähigkeiten, ohne Erinnerung an die<br />
eigenen Ressourcen? Wir haben gelernt, dass Wollen sich an<br />
der Realität orientiert und direkt mit den eigenen Fähigkeiten<br />
zu tun hat.<br />
Wir stellen in der Pflege zwar fest, dass viele Betroffene<br />
ihre charakteristischen Wesenszüge und ihre persönlichen<br />
Eigenarten trotz der Erkrankung lange behalten. Mit zu-<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 65