WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Klinisches Symposium<br />
ausübung und deren Genese mit dem/der betroffenen Patienten/Patientin<br />
nachzubesprechen! Nach Erfahrung an unserer<br />
Abteilung sehen ca. 50% der PatientInnen post festum<br />
ein, dass die Anwendung von Zwang in diesem speziellen Fall<br />
nicht vermeidbar war <strong>–</strong> im Umkehrschluss aber bleiben auch<br />
ca. 50% dabei, die Zwangsanwendung als nicht gerechtfertigt<br />
zu empfinden! Diese Zahlen entsprechen in etwa den Ergebnissen<br />
der (noch nicht sehr zahlreichen und methodisch nicht<br />
sehr elaborierten) internationalen Arbeiten zum Thema.<br />
Zur Verbesserung der Deeskalations-Kompetenz haben<br />
sich an vielen Standorten „Durchschulungen“ aller einzelnen<br />
Team-Mitglieder (ÄrztInnen, TherapeutInnen und Pflegepersonal)<br />
durch Außen-ExpertInnen als hilfreich erwiesen!<br />
Für mich bleibt auffällig, dass ein Lernen im Sinne von „best<br />
practice“ hier nur schwierig und zögernd stattfindet: Schon informelle<br />
Gespräche im Sinne von „Wie macht denn ihr das?“<br />
können schnell emotional oder moralisierend werden…<br />
Zwangsausübung →<br />
Gegenübertragungsreaktionen<br />
Sehr unterschiedlich wird die Zwangsausübung von den<br />
Behandelnden erlebt <strong>–</strong> je nachdem, ob die Ausübung von<br />
Zwang als unvermeidbar und schützend für den Betroffenen<br />
(oder andere Menschen) eingeschätzt und daher als relativ<br />
„ich-synton“ erlebt wurde, oder aber umgekehrt der Eindruck<br />
entstand, dass diese Eskalation/Aggression „eigentlich“<br />
vermeidbar gewesen wäre → dann kann die Ausübung<br />
von Zwang als ich-dyston erlebt werden.<br />
Psychosoziale Krise<br />
Schwere subjektive Notlagen<br />
Zusammenbruch der<br />
Selbsthilfe-Potentiale, daher<br />
Ziel: Hilfe zur Selbsthilfe<br />
Intervention nötig innerhalb<br />
von 24/höchstens 48<br />
Stunden<br />
Psychiatrischer Notfall<br />
Objektiver medizinischer<br />
Notfall/ Lebensgefahr<br />
Rasche (vorerst symptomatische)<br />
Besserung<br />
Unmittelbarer Handlungsbedarf<br />
(Soforthilfe!) unter<br />
Zeitdruck<br />
Tab. 1: Unterscheidung psychosoziale Krise/psychiatrischer Notfall nach<br />
C. Stein, 2012<br />
Beispiele<br />
Als ich-synton erlebt wird Zwangsausübung eher bei<br />
Fremdgefährdung (dann wieder stärker, wenn jüngere, stärkere,<br />
oft auch alkoholisierte Männer betroffen sind) sowie zur<br />
Verhinderung (weiterer) Suizidversuche oder zum Schutz bei<br />
psychotischen Ängsten/psychotischer Verzweiflung.<br />
Als ich-dyston wird Zwangsausübung oft dann erlebt,<br />
wenn man gereizt und gleichzeitig hilflos das „Aufschaukeln“<br />
durch verschiedene Eskalationsstufen beobachten muss<br />
und zwar der Eindruck entsteht, dass der Betroffene „ja nichts<br />
anderes wollte“, dass wir uns aber letztlich als hilflose Aggressoren<br />
empfinden [diagnostisch: bei Persönlichkeitsstörungen,<br />
bei traumatisierten PatientInnen]. In diesen Fällen<br />
fühlen wir uns selbst unter Zwang, vom Patienten provoziert<br />
bzw. gezwungen zum Eingreifen spätestens dann, wenn er<br />
durch Selbstverletzungen oder Suizidgesten sein Leben gefährdet.<br />
Die Unterscheidung Krise gegenüber Notfall (vgl. Tab.<br />
1) wird oft auch von den vorhandenen Ressourcen abhängen<br />
und von der juristisch-professionellen Frage, wer denn<br />
nun helfen bzw. einschreiten „darf“ bzw. auch umgekehrt<br />
„muss“. Eine gefürchtete Frage in diesem Zusammenhang:<br />
„Wenn etwas passiert, wer trägt die Verantwortung…“<br />
Ein Beispiel dazu (bei uns mehrmals pro Jahr vorkommend):<br />
Ein 19-jähriger junger Mann wird frühmorgens bei Heimfahrt<br />
von der Disco von der Polizei gestoppt / ist alkoholisiert<br />
/ Abnahme des Führerscheins / worauf der junge Mann verzweifelt<br />
äußert, dass er nun nicht mehr leben wolle…<br />
In diesen Fällen wird er meist von der Polizei an unsere<br />
Abteilung gebracht. Ab dann verschiedene Möglichkeiten:<br />
Falls sich der junge Mann bereits etwas beruhigt hat, werden<br />
die Eltern kontaktiert. Falls diese bereit sind, ihn abzuholen<br />
und bis zu einem ambulanten Kontrolltermin am folgenden<br />
Tag die Verantwortung zu übernehmen, geht er heim.<br />
Falls dies nicht der Fall ist, muss er aber zumindest bis<br />
zur völligen Ausnüchterung (schlimmstenfalls gegen seinen<br />
Willen) an der Abteilung bleiben. Erst nach Ausnüchterung<br />
ist für uns abzuschätzen, ob über den aktuellen Anlass hinaus<br />
auch sonst seine Affekt- und Impulskontrolle schwach<br />
ausgeprägt ist oder aber er wieder völlig unauffällig ist.<br />
Wichtigkeit des Kontexts → Psychiatrie am<br />
allgemeinen Krankenhaus<br />
Heute gibt es bereits zahlreiche, relativ kleine psychiatrische<br />
Abteilungen an öffentlichen Krankenhäusern in Österreich<br />
<strong>–</strong> meist durchgehend offene Abteilungen, also keine<br />
„geschlossenen Abteilungen“ mehr. Die Konsequenzen dieses<br />
„Ankommens“ der Psychiatrie am allgemein-öffentlichen<br />
Krankenhaus und damit auch im System der somatischen<br />
Medizin sind ein beeindruckendes Beispiel für Kontext-Abhängigkeit<br />
jeglicher institutioneller Handlung: Allein durch<br />
den Paradigmenwechsel von „Irrenhaus“ zu „Krankenhaus“<br />
konnten dieselben PsychiaterInnen mit oft denselben PatientInnen<br />
beeindruckend anders umgehen! Die Schwellenangst<br />
vor der Psychiatrie ist deutlich gesunken, daher kommen die<br />
Menschen früher zur Aufnahme, in vermehrtem Ausmaß freiwillig,<br />
allerdings müssen sie <strong>–</strong> aufgrund des Bettenmangels<br />
<strong>–</strong> sehr bald wieder entlassen werden. Viele Patienten und vor<br />
allem Angehörige berichten verbittert, dass es heutzutage viel<br />
leichter ist, aus der Psychiatrie herauszukommen als ein Bett<br />
zu bekommen, also hineinzukommen!<br />
Die geringe Bettenzahl sollte durch ein massiv ausgebautes<br />
extramurales, d. h. ambulantes Behandlungssystem<br />
ergänzt werden <strong>–</strong> dieses gibt es aber nicht im benötigten<br />
Ausmaß (trotz ebenfalls massiven Ausbaus in den letzten<br />
Jahrzehnten). Insgesamt aber ist das Projekt „Psychiatrie<br />
am allgemeinen Krankenhaus“ sicher als Erfolg zu werten,<br />
wodurch auch das Ausmaß an benötigtem Zwang massiv<br />
zurückging. (In Niederösterreich z. B. gab es früher in Gugging<br />
Unterbringungsraten von fast 50%, dzt. eben um die<br />
10%; allerdings in Mauer-Öhling <strong>–</strong> als verbliebener „Groß-<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 61