WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International
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Plenarvortrag<br />
und Freiheit des Selbst mit der Umsetzungs- und Durchsetzungsstärke<br />
des Ich verbunden.<br />
Dagegen führt einseitige „Selbstkontrolle“ (d. h. Ich-<br />
Kontrolle) dazu, dass das Ich Ziele aufnimmt und umsetzt,<br />
die gar nicht zum Selbst passen. Das nannte Freud Introjektion.<br />
Man kann auch von Fremdsteuerung oder mangelnder<br />
Selbstkongruenz sprechen. Wer nicht gelernt hat, seine<br />
Handlungsabsichten und Ziele mit dem Selbst abzustimmen,<br />
kann kurzfristig sogar in seiner „Willensstärke“ beeinträchtigt<br />
werden, wenn man ihm hilft, ins Selbst zu gelangen. Das<br />
haben wir in einer Untersuchung aufzeigen können, in der es<br />
um die Umsetzung von Vorsätzen zur Änderung ungesunder<br />
Ernährungsgewohnheiten ging. Die Teilnehmer sollten täglich<br />
ein Ernährungstagebuch führen, in dem sie abends ihre<br />
Vorsätze für den nächsten Tag notierten (z. B. „Ich werde<br />
morgen Brokkoli und Fisch essen und weder Pommes frites<br />
noch Schokolade“). Zusätzlich sollten sie jeweils notieren,<br />
wie gut sie die Vorsätze vom Vortag umgesetzt hatten. Es<br />
gab zwei verschiedene Gruppen. Die eine Gruppe sollte<br />
einen Stil anwenden, der zur strengen Ich-Kontrolle passt,<br />
also besonders auf Misserfolge achten (z. B. auch kleine<br />
Versuchungsmomente aufschreiben, in denen man schwach<br />
geworden war, vielleicht auch nur mental und nur ein wenig);<br />
dann sollte man sich für solche Misserfolge „bestrafen“<br />
(z. B. verbal oder indem man sich die negativen Folgen<br />
vor Augen führte). Die andere Gruppe sollte einen Stil des<br />
„positiven Denkens“ anwenden, der eher zur Selbstregulation<br />
passt (z. B. auf kleine Fortschritte achten, sie aufschreiben<br />
und sich selbst belohnen, verbal oder dadurch, dass<br />
man sich die positiven Folgen vorstellte). Mit Hilfe eines<br />
Fragebogens, der Teil der Entwicklungsorientierten Osnabrücker<br />
Systemdiagnostik (EOS) ist, wurde festgestellt, ob<br />
die Personen im Alltag mehr zu einer strengen Ich-Kontrolle<br />
oder mehr zu einem „demokratischen“ Selbstregulationsstil<br />
neigten. Die Ergebnisse waren frappant: Vom vielfach<br />
so hoch gelobten „positiven Denken“ profitierten nur die<br />
Teilnehmer, die mehr zu einem demokratischen Selbstregulationsstil<br />
neigten. Personen mit einem disziplinierten<br />
Ich-Kontrollstil hatten sogar in der Gruppe mit positiver<br />
Selbstbelohnung für kleine Fortschritte eine deutlich geringere<br />
Umsetzungsrate. Das bestätigt die eingangs formulierte<br />
Vermutung: Wenn man bei Menschen, die sehr streng mit<br />
sich umgehen, das Selbst öffnet (hier durch die Selbstbelohnung<br />
für kleine Erfolge), dann setzen sie weniger von ihren<br />
Vorsätzen um, weil diese Vorsätze gar nicht in ihrem Selbst<br />
integriert sind.<br />
Dieser Erklärungsansatz ist ein Beispiel für eine funktionsanalytische<br />
Erklärung eines Verhaltens: Der freiheitliche<br />
Selbstregulationsstil ist wenig hilfreich, wenn Menschen<br />
nicht gelernt haben, freiheitlich mit ihren Vorsätzen umzugehen,<br />
d. h. sie auf Selbstkompatibilität zu prüfen und wenn<br />
nötig so zu verändern, dass die Vorsätze selbstkongruent<br />
sind. Wenn das nicht gelingt, dann aktiviert der Weg in die<br />
Freiheit, d. h. die Öffnung des Selbst, nicht die eigenen Vorsätze<br />
(die sind ja bei einseitiger Ich-Kontrolle gar nicht mit<br />
dem Selbst abgestimmt), sondern alle möglichen anderen<br />
selbstkongruenten Bedürfnisse und Gelüste, die das Umsetzen<br />
des aktuellen Vorsatzes noch weiter erschweren.<br />
Funktionsprofile des Ich und des Selbst<br />
Wie funktioniert nun das Selbst, wenn es sich in einem<br />
freiheitlichen (d. h. die persönliche Autonomie unterstützenden)<br />
Sozialisationskontext entwickelt hat (Deci & Ryan<br />
2000)? Diese Frage ist nicht nur theoretisch, sondern auch<br />
praktisch von großer Relevanz: Wer weiß, wie das Selbst<br />
funktioniert, kann sein enormes Potenzial im beruflichen<br />
wie im privaten Alltag besser nutzen und auch andere auf<br />
diesem Entwicklungsweg unterstützen. Um zu verstehen,<br />
wie das Selbst funktioniert, lohnt es sich zuerst einmal die<br />
Funktionsweise eines durchaus ebenbürtigen Gegenspielers<br />
des Selbst anzuschauen: Das Ich ist wie das Selbst auf der<br />
höchsten Steuerungsebene des Systems „Persönlichkeit“ angesiedelt.<br />
Wie das Ich funktioniert, wissen wir alle. Denn<br />
es ist die Basis unseres Alltagsbewusstseins. Das Tor zum<br />
Ich ist das logische Denken. Das Ich analysiert Zusammenhänge,<br />
d. h. es zerlegt das Ganze in seine Bestandteile und<br />
schaut sich alle Einzelheiten nacheinander an. Wir verbinden<br />
heute das Ich mit der Funktionsweise der linken Hemisphäre<br />
des Gehirns. Neuroanatomisch besteht die linke Hemisphäre<br />
aus einer riesigen Zahl relativ kleiner, hochspezialisierter<br />
Neuronensäulen (Scheibel et al 1985). Bildlich gesprochen<br />
ist jedes dieser Module einem Experten vergleichbar, der auf<br />
irgendeine kleine Leistung spezialisiert ist.<br />
ICH<br />
Analytisches Denken<br />
(Emotions<strong>–</strong>unabhängige<br />
Wenn-dann-Logik)<br />
Einzelne Informationen:<br />
sequenziell abrufbar (Module:<br />
Spezialisten)<br />
Bewusst (kontrollierbar<br />
durch Intentionen): Ichund<br />
Fremdkontrolle<br />
Dichotomien: Entwederoder<br />
(Kategorisches<br />
Schwarz-weiß-Denken)<br />
Unsicherheit: Skeptische<br />
Grundhaltung (Abwehr:<br />
Vermeiden von Negativem)<br />
SELBST<br />
Ganzheitliches Fühlen<br />
(Vernetzung mit Emotionen:<br />
eigenen und fremden)<br />
Paralleles Netzwerk von Erfahrungen<br />
(Gefühle Bedürfnisse<br />
Fähigkeiten)<br />
Unbewusst: „Freiheit“ (von<br />
verengter Fremd- oder bewusster<br />
Ich-Kontrolle)<br />
Integrativ (Lösungen die<br />
gleichzeitig vielen Perspektiven<br />
gerecht werden)<br />
Innere Sicherheit (Selbstkonfrontative<br />
Bewältigung durch<br />
positive Bilanzierung)<br />
Tab. 2: Ich und Selbst: Gegenüberstellung einiger Funktionsmerkmale<br />
In jedem einzelnen Moment ist das Ich jeweils nur auf<br />
eine winzige Einzelheit konzentriert, d. h. in einem gegebenen<br />
Moment ist nur einer der Experten an der Reihe. Viele<br />
Dinge zusammen sehen, ist dann schwierig, sodass jemand,<br />
der sich ganz einseitig immer nur auf das analytische Ich<br />
verlässt, ziemlich engstirnig wirken kann. Das liegt an der<br />
„begrenzten Kapazität“ des Bewussteins: Auf der Ich-Ebene<br />
können wir uns immer nur eine Sache gleichzeitig bewusst<br />
machen, allenfalls noch zwei, aber ab drei braucht man schon<br />
die Parallelverarbeitung des Selbst. Bei Menschen, die sehr<br />
stark von ihrem Ich dominiert sind, kann die „Engstirnigkeit“<br />
des bewussten Ich geradezu zu einem Persönlichkeitsmerkmal<br />
werden. Solche Menschen erkennt man z. B. an<br />
einem sehr einseitigen Entweder-oder-Denken: Entweder<br />
EXISTENZANALYSE 29/2/2012 43