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WO EIN WILLE – DA EIN WEG - GLE International

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Klinisches Symposium<br />

nehmender Demenz gehen jedoch die damit verknüpften<br />

Fähigkeiten und Muster verloren. Am Ende bleibt für die<br />

Angehörigen und Pflegenden oft nur noch ein gänzlich hilfsbedürftiger<br />

Mensch, ein Mensch, der sich für uns kaum noch<br />

verständlich ausdrücken kann, der scheinbar nicht mehr versteht,<br />

was wir ihm mitteilen wollen. Mit klaren Momenten<br />

bis zur Stufe 2 der Erkrankung, ab Stufe 3 sind auch diese<br />

meist erloschen. Wille kann nicht mehr zum Ausdruck<br />

gebracht werden. Im Blick blitzt nur noch manchmal für<br />

Bruchteile von Sekunden ein Verstehen auf.<br />

Ich denke oft an die letzte Strophe von R. M. Rilkes Gedicht<br />

„Der Panther“, wenn mich der Blick eines Demenzkranken<br />

trifft:<br />

„Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille<br />

sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,<br />

geht durch der Glieder angespannte Stille -<br />

und hört im Herzen auf zu sein.“<br />

(Rilke 1986, 451)<br />

Wie sehr einem Menschen mit Demenz das Wollen und<br />

Können abhanden kommen kann, dazu möchte ich Ihnen<br />

ein etwas ausführlicheres Beispiel aus meiner Arbeit skizzieren:<br />

Fallbeispiel<br />

Ich selbst begleitete einen Mann über ein Jahr auf dem<br />

Weg in eine sich sehr schnell entwickelnde Demenz vom<br />

Alzheimer’schen Typus. Er war sehr kultiviert und kleidete<br />

sich anfangs noch mit Anzug und Krawatte. Er hatte sich ein<br />

ausgeklügeltes System von Notizen und Erinnerungshilfen<br />

selbst geschaffen, das im ersten Stadium der Demenz noch<br />

gut funktionierte.<br />

Es gab noch Erinnerungen an seine Fähigkeiten, welche<br />

er auch einsetzte. So traf ich ihn eines Tages an, wie er sich<br />

einen Badeschwamm briet, den er vorher paniert hatte, um<br />

ihn sich als Schnitzel anzurichten, wie er sagte. Hier ist noch<br />

deutlich ein Wille zu erkennen, aber es fehlte bereits an der<br />

Verknüpfung mit den Fähigkeiten zur Differenzierung. Es<br />

war jetzt an mir, ihm diese Idee „unschmackhaft“ zu machen<br />

und ihm anderes anzubieten. Er aß und trank zu diesem Zeitpunkt<br />

noch selbstständig.<br />

Auch diese Fähigkeiten gingen ihm zusehends verloren<br />

(ähnlich wie die Ressourcen bei der Körperpflege und der<br />

Kleidung). Wir setzten uns täglich mehrmals mit ihm hin,<br />

aßen selbst etwas, saßen ihm gegenüber, und er guckte sich<br />

das Verhalten noch eine Zeitlang von uns ab. Dann mussten<br />

wir ihm das Essen und die Getränke reichen. Zuletzt war er<br />

weitgehend bettlägerig, und eines Morgens fand ich ihn in<br />

seinem Zimmer: Er war unter das Bett gekrochen, vollgekotet<br />

und eiskalt. Er war offensichtlich aus dem Bett gefallen/<br />

gestiegen und hatte nicht mehr zurückgefunden. Er konnte<br />

keine Assoziation mehr herstellen zwischen dem Zimmer,<br />

dem Bett, zwischen sich und dem Schutz und der Wärme,<br />

die so direkt über ihm waren. Er hatte sich auch keine Decke<br />

oder Ähnliches heruntergezogen, er „wusste das“ einfach<br />

nicht mehr. Er starb dann später an der Pneumonie, die er<br />

sich dabei zugezogen hatte.<br />

An diesem Beispiel wird deutlich, wie sehr die Fähigkeit<br />

„zu wollen“, in der Demenz abhanden kommen kann. Es<br />

bleibt nur noch ein bedürfnisorientiertes Einfordern von Lebensnotwendigem,<br />

und auch dies verschwindet mit der Zeit.<br />

Existenzanalyse als Hilfestellung im Umgang<br />

mit Demenzkranken<br />

Wie gehen wir als Pflegekräfte und Angehörige damit<br />

um, dass wir einem Menschen in dieser Phase eine Pflege<br />

angedeihen lassen, von der wir nicht wissen können, ob er<br />

sie will, und in der wir nicht wissen können, was er wirklich<br />

will?<br />

Oft deuten demenzkranke Menschen ja ihre Wünsche<br />

„nur“ an, im Sinne von unvollständigen Handlungsabläufen.<br />

Wir müssen dann erspüren, was gemeint sein könnte, richtig<br />

deuten und dem Betroffenen helfen, diese lediglich angedeutete<br />

Absicht umzusetzen. Wir sind also einerseits auf<br />

unsere Wahrnehmung und unsere Intuition angewiesen, und<br />

auf Wissen und Information andererseits.<br />

Daher kann die Kenntnis der existenzanalytischen Grundmotivationen<br />

im Arbeitsalltag des Pflegepersonals sehr hilfreich<br />

sein. Sie hilft uns, indem wir uns daran immer wieder<br />

orientieren können bezüglich all dessen, was dem dementen<br />

Menschen unwiederbringlich verloren geht beziehungsweise<br />

gegangen ist. Wir können uns mit ihrer Hilfe gut bewusst<br />

machen, welche Gefühle ein solcher Verlust schon bei uns<br />

selbst hervorruft, und die Gefühle des Betroffenen besser<br />

verstehen.<br />

Ich arbeite an einem neuen Pflegemodell für psychisch<br />

Kranke auf dem Boden der Grundmotivationen. Während<br />

meiner Arbeit damit habe ich mit Pflegekräften über die<br />

Grundmotivationen gesprochen, sie ihnen erklärt, sie darin<br />

geschult und dabei kleine Selbsterfahrungssequenzen eingebaut<br />

wie z.B.: „Was bedeutet dir denn dein eigener Raum,<br />

wie sollte er gestaltet sein, und wie reagierst du, wenn man<br />

dir den Raum nehmen will?“ Oder: „Was tust du bewusst,<br />

um deine Beziehungen aufrecht zu erhalten, wie wichtig ist<br />

dir das? Und was passiert mit dir bei Beziehungsverlust?“<br />

Vielen Kollegen/innen ist dabei sehr deutlich geworden,<br />

dass wir bewusster damit umgehen müssen, dass der Demenzkranke<br />

ab einem gewissen Grad einfach nicht mehr damit<br />

umgehen kann. Wenn wir uns bewusst machen, dass ein<br />

demenzkranker Mensch keine dieser Grundbewegungen hin<br />

zum Leben mehr allein und dauerhaft ausführen kann, wenn<br />

wir uns bewusst machen, welche Gefühle dann bei diesem<br />

Menschen entstehen, dann entsteht mehr Verständnis für<br />

diesen Menschen und damit mehr Menschlichkeit.<br />

Dabei liegt die Priorität der Hilfestellung in der Demenz<br />

letztlich meist in der ersten und zweiten GM: Schutz und<br />

Halt geben; Raum sichern und so gestalten, dass der demenzerkrankte<br />

Mensch in Würde leben kann. Da wir wissen,<br />

dass der Demenzkranke nicht mehr über Verstehen und<br />

Erinnern zu erreichen ist, müssen wir zu ihm in Beziehung<br />

gehen, eine Brücke zu ihm finden, indem wir Nähe herstellen<br />

und vermitteln, Emotionen akzeptieren, auch wenn sie<br />

66 EXISTENZANALYSE 29/2/2012

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