„Die gefangene leugknet alles“ - Historicum.net
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Von Schreibern und Kanzleien 57<br />
Ausprägungen der Verhörprotokolle eher gering bleiben mussten, weil die praktische<br />
Ausbildung weitgehend von der Rechtswissenschaft abgekoppelt und ihrer Kontrolle<br />
entzogen war. 256 Eine wichtige Rolle spielten stattdessen weiter Traditionen und persönliche<br />
Erfahrung, die neben der charakterlichen Eignung auch als wichtige Einstellungsvoraussetzungen<br />
für Schreiber in den zeitgenössischen gesetzlichen Verordnungen genannt<br />
werden. Dies stellte sicher eine der Ursachen dafür dar, dass die auf der Grundlage<br />
systematischer wissenschaftlicher Bearbeitung entstandenen Idealvorstellungen von<br />
der Protokollführung, die Eingang in verschiedene Gesetze gefunden haben, in der Praxis<br />
nicht immer beachtet wurden.<br />
2. Der Einfluss der Kanzleien<br />
Wenn auch einige Rechtsfakultäten Ende des 16. Jahrhunderts versuchten, über Zulassungsprüfungen<br />
die Tätigkeit der Gerichtsschreiber stärker mit den gelehrten Rechten<br />
zu verknüpfen, 257 so prägten doch – wie gezeigt werden konnte – weiterhin die Kanzleien<br />
die praktische Ausbildung. Ein Gesichtspunkt der in dieser Untersuchung bislang<br />
wenig beachtet worden ist, ist die Frage, inwieweit die Schreiber bei ihrer Tätigkeit<br />
nach der Lehrzeit an Schreib- beziehungsweise Kanzleitraditionen gebunden waren.<br />
Insbesondere in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts stießen bei<br />
dieser Fragestellung zwei stark gegensätzliche Forschermeinungen aufeinander: Während<br />
Boesch „die Schreibgewohnheit einer Kanzlei oder kleineren Klosterschreibstube<br />
[als] eine stets zu berücksichtigende formende Macht [betrachtete], der sich Schreiberindividualitäten<br />
weitgehend unterordnen,“ 258 behauptete Haacke 1955 leicht überspitzt,<br />
dass „das Problem der Urkundensprache das der Schreiber [sei].“ 259 In einem Aufsatz<br />
aus dem Jahr 1964 ersetzt Haacke diese radikale These allerdings durch eine weit differenziertere<br />
Darstellung: Für die Urkundensprache des 13. Jahrhunderts nimmt er eine<br />
dominante Rolle der Schreiber an, während die Schreibgewohnheiten der Kanzleien und<br />
256 Dieses Problem verschärfte sich noch durch die im dritten Kapitel dargestellte großzügige Ernennungspraxis<br />
bei den Notaren (vgl. Anmerkung 134).<br />
257 Vgl. etwa Lorenz 1982, 358. Die Zulassungsprüfung wird zunächst hauptsächlich für Notare verlangt.<br />
Im 17. Jahrhundert findet die Forderung nach einer Zulassungsprüfung für alle Gerichtsschreiber auch<br />
Eingang in einige Gerichtsordnungen. Im Landrecht der Markgrafschaften Baden und Hochberg<br />
(1622, 35) heißt es etwa: Da nun ein Amt: Statt oder Gemeind / ein solche qualificierte Person zu irem<br />
Ampt: Statt: oder Gerichtschreiber zu bestellen begern / Sollen sie dieselbe zuuor [!] zu vnserer<br />
Cantzley weisen / vnd daselbsten von vnsern Statthalter / Hoffrichter / Cantzler vnnd R(hten approbieren<br />
vnd bestettigen lassen / eher aber vnd zuvor keinen gebrauchen / er seye dann bey jetztgedachter<br />
vnser Cantzley fFr taugentlich erkandt.<br />
258 Boesch 1946, 27.<br />
259 Haacke 1955, 389, zit. n.: ebd. 1964, 139.