Nr. 60 - Herbst 2016
Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt » Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ? Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes
Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt »
Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ?
Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere
Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes
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UNTERWEGS IN FRANKREICH Dordogne-Tal<br />
Abenteuer zu stürzen. Wenn ich das Gefühl habe, das<br />
muss ich jetzt machen, dann kann mich auch das Unbekannte<br />
nicht abschrecken. Selbst wenn manche Dinge am<br />
Anfang verrückt erscheinen mögen, wie beispielsweise die<br />
Entscheidung, in Frankreich zu leben.<br />
Wann haben Sie Frankreich entdeckt?<br />
Nachdem ich Ostdeutschland verlassen hatte, kam ich<br />
1984 zum ersten Mal nach Paris. Dort erschien mir alles<br />
ganz anders. Ich war extrem hungrig darauf, Neues zu<br />
entdecken, hungrig auf Freiheit … Ich fühlte mich wie ein<br />
Schwamm: Alles interessierte mich, ich wollte alles aufsaugen.<br />
Ein Verständnis für Frankreich bekam ich durch<br />
die Geschichte der Franche-Comté. Irgendwie war mir<br />
das Buch La saison des loups des französischen Schriftstellers<br />
Bernard Clavel in die Finger geraten. Die Handlung<br />
spielt dort unter der Herrschaft Ludwigs XIII. Ich erinnere<br />
mich sehr gut, dass ich die ersten drei Seiten las, jedoch<br />
mangels ausreichender Französischkenntnisse nicht wirklich<br />
viel verstand. Also begann ich wieder von vorne und<br />
so weiter. Irgendwann hat sich mein Französisch dann<br />
verbessert. Dazu beigetragen hat eine besondere Technik:<br />
Ich stellte mir einen leeren Raum vor und richtete ihn im<br />
Geist mit allen Objekten ein, deren französische Bezeichnung<br />
ich kannte. Am Anfang war der Raum leer, nach<br />
und nach füllte er sich dann aber, und irgendwann sah<br />
er wirklich nach etwas aus … Seitdem ich in Frankreich<br />
lebe, kann ich mich natürlich mit Freunden unterhalten<br />
und Filme im Fernsehen ansehen. Das hat mir sehr geholfen,<br />
die Sprache besser zu verstehen!<br />
Wie kamen Sie ins Musée de l‘Automate in Souillac?<br />
Das ist eine typisch französische Geschichte, in der die<br />
Beziehungen zwischen Industrie, Politik und Kulturerbe<br />
eine Rolle spielen. Alles begann mit dem französischen<br />
Unternehmen Roullet-Decamps, das 1865 gegründet<br />
worden und weltweit für seine Automaten bekannt war. In<br />
den 70er-/80er-Jahren kamen jedoch elektronische Spielzeuge<br />
auf den Markt, Spielzeuge aus Asien stellten eine<br />
immer größere Konkurrenz dar, die Werbewelt veränderte<br />
sich. Die Folge war, dass das Unternehmen in große<br />
Schwierigkeiten geriet. Die Schließung war irgendwann<br />
unvermeidlich, und 1995 war es dann soweit. Doch dem<br />
französischen Staat war bereits zuvor bewusst geworden,<br />
welch außerordentliche Sammlung an historischen Automaten<br />
hier im Departement Lot, in der Produktionsstätte<br />
von Roullet-Decamps, vorhanden war. In den 80er-Jahren<br />
hatte der Bürgermeister von Souillac, Alain Chastagnol<br />
– ein Politiker der Rechten –, den damaligen Kulturminister<br />
unter François Mitterand, Jack Lang – also ein<br />
Politiker der Linken –, in diesem Punkt sensibilisiert.<br />
Jack Lang setzte sich für die Rettung dieser Sammlung<br />
ein. Linke und Rechte zogen also an einem Strang, und<br />
der Staat kaufte die Sammlung Roullet-Decamps. In der<br />
Folge konnte dann das Musée de l’Automate in Souillac gegründet<br />
werden.<br />
Und dann hat man Sie damals hinzugezogen?<br />
Ja. Allerdings kam das nicht von heute auf morgen. Als<br />
der Staat die Automatensammlung gekauft hatte, standen<br />
sofort die staatlichen Konservatoren auf dem Plan. Sie ordneten<br />
an, dass nichts berührt werden dürfe, dass alles in<br />
ihre Zuständigkeit fiele. Objektiv gesehen wären natürlich<br />
nur die Leute vor Ort, diejenigen, die für Roullet-Decamps<br />
gearbeitet hatten oder noch arbeiteten, die einzigen wirklich<br />
Kompetenten für diese Automaten gewesen … Egal,<br />
man musste den « normalen » hierarchischen Weg einhalten,<br />
also abwarten, bis der Staat über seine Vertreterin, die<br />
Konservatorin des Lot, die Person bestimmte, die dann die<br />
Automaten offiziell aus ihren verstaubten Kartons holen<br />
durfte, um sie wieder zusammenzubauen, zu unterhalten,<br />
schließlich auszustellen und damit dieses Museum zu<br />
schaffen. Zu diesem Zeitpunkt hat man mich kontaktiert.<br />
Ich lebte damals in der Schweiz. Die Konservatorin hatte<br />
die Verbindung zwischen der Mechanik und der bekannten<br />
und renommierten Schweizer Uhrmacherkunst hergestellt<br />
und sich daher dort umgesehen. Ich erinnere mich, dass<br />
ich auf einer Karte nachsehen musste, wo Souillac liegt. Im<br />
ersten Augenblick war ich ein wenig erstaunt, aber angesichts<br />
der Chance, an einer solchen Sammlung arbeiten zu<br />
können, habe ich keine Sekunde gezögert. Und so bin ich<br />
schließlich 1989 nach Souillac gekommen.<br />
Das war also nicht nur für Deutschland und Europa ein besonderes<br />
Jahr, sondern auch für Sie<br />
Wahrhaftig! Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass<br />
die Automaten der Sammlung in einem erbärmlichen<br />
Zustand waren. Ich habe also Tag und Nacht gearbeitet.<br />
Ein Nachbar hat mir dann die Neuigkeit mitgeteilt. Er<br />
kam angerannt und rief: « Klaus, Klaus, … die Mauer ist<br />
gefallen! » Es ist verrückt, aber ich erinnere mich gut, dass<br />
die Nachricht so unglaublich war, dass sie mir im ersten<br />
Moment beinahe seltsam vorkam. Dann haben wir uns<br />
hingesetzt und Champagner getrunken! Mir wurde bewusst,<br />
dass ich mich nun nicht mehr mit meinen Eltern<br />
an einer Autobahntankstelle Richtung Berlin verabreden<br />
musste, um sie zehn Minuten lang heimlich zu treffen …<br />
Wie haben Sie sich in der Region eingelebt?<br />
Sehr gut. Am Anfang hat man mich sicher ein wenig<br />
für verrückt gehalten. Man muss wissen, dass ich zunächst<br />
etwas zurückgezogen lebte. Ich war derart davon<br />
begeistert, diese Automaten wieder zum Leben zu erwecken,<br />
dass ich meine Werkstatt nur selten verließ. Für<br />
mich war es wie in einem Kindertraum: Plötzlich hatte<br />
ich die schönsten Automaten der Welt vor mir. Und ich,<br />
der kleine Deutsche aus Leipzig, war für diese Sammlung<br />
32 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2016</strong>