21.04.2020 Aufrufe

Nr. 60 - Herbst 2016

Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt » Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ? Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes

Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt »
Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ?
Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere
Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

UNTERWEGS IN FRANKREICH Dordogne-Tal<br />

Abenteuer zu stürzen. Wenn ich das Gefühl habe, das<br />

muss ich jetzt machen, dann kann mich auch das Unbekannte<br />

nicht abschrecken. Selbst wenn manche Dinge am<br />

Anfang verrückt erscheinen mögen, wie beispielsweise die<br />

Entscheidung, in Frankreich zu leben.<br />

Wann haben Sie Frankreich entdeckt?<br />

Nachdem ich Ostdeutschland verlassen hatte, kam ich<br />

1984 zum ersten Mal nach Paris. Dort erschien mir alles<br />

ganz anders. Ich war extrem hungrig darauf, Neues zu<br />

entdecken, hungrig auf Freiheit … Ich fühlte mich wie ein<br />

Schwamm: Alles interessierte mich, ich wollte alles aufsaugen.<br />

Ein Verständnis für Frankreich bekam ich durch<br />

die Geschichte der Franche-Comté. Irgendwie war mir<br />

das Buch La saison des loups des französischen Schriftstellers<br />

Bernard Clavel in die Finger geraten. Die Handlung<br />

spielt dort unter der Herrschaft Ludwigs XIII. Ich erinnere<br />

mich sehr gut, dass ich die ersten drei Seiten las, jedoch<br />

mangels ausreichender Französischkenntnisse nicht wirklich<br />

viel verstand. Also begann ich wieder von vorne und<br />

so weiter. Irgendwann hat sich mein Französisch dann<br />

verbessert. Dazu beigetragen hat eine besondere Technik:<br />

Ich stellte mir einen leeren Raum vor und richtete ihn im<br />

Geist mit allen Objekten ein, deren französische Bezeichnung<br />

ich kannte. Am Anfang war der Raum leer, nach<br />

und nach füllte er sich dann aber, und irgendwann sah<br />

er wirklich nach etwas aus … Seitdem ich in Frankreich<br />

lebe, kann ich mich natürlich mit Freunden unterhalten<br />

und Filme im Fernsehen ansehen. Das hat mir sehr geholfen,<br />

die Sprache besser zu verstehen!<br />

Wie kamen Sie ins Musée de l‘Automate in Souillac?<br />

Das ist eine typisch französische Geschichte, in der die<br />

Beziehungen zwischen Industrie, Politik und Kulturerbe<br />

eine Rolle spielen. Alles begann mit dem französischen<br />

Unternehmen Roullet-Decamps, das 1865 gegründet<br />

worden und weltweit für seine Automaten bekannt war. In<br />

den 70er-/80er-Jahren kamen jedoch elektronische Spielzeuge<br />

auf den Markt, Spielzeuge aus Asien stellten eine<br />

immer größere Konkurrenz dar, die Werbewelt veränderte<br />

sich. Die Folge war, dass das Unternehmen in große<br />

Schwierigkeiten geriet. Die Schließung war irgendwann<br />

unvermeidlich, und 1995 war es dann soweit. Doch dem<br />

französischen Staat war bereits zuvor bewusst geworden,<br />

welch außerordentliche Sammlung an historischen Automaten<br />

hier im Departement Lot, in der Produktionsstätte<br />

von Roullet-Decamps, vorhanden war. In den 80er-Jahren<br />

hatte der Bürgermeister von Souillac, Alain Chastagnol<br />

– ein Politiker der Rechten –, den damaligen Kulturminister<br />

unter François Mitterand, Jack Lang – also ein<br />

Politiker der Linken –, in diesem Punkt sensibilisiert.<br />

Jack Lang setzte sich für die Rettung dieser Sammlung<br />

ein. Linke und Rechte zogen also an einem Strang, und<br />

der Staat kaufte die Sammlung Roullet-Decamps. In der<br />

Folge konnte dann das Musée de l’Automate in Souillac gegründet<br />

werden.<br />

Und dann hat man Sie damals hinzugezogen?<br />

Ja. Allerdings kam das nicht von heute auf morgen. Als<br />

der Staat die Automatensammlung gekauft hatte, standen<br />

sofort die staatlichen Konservatoren auf dem Plan. Sie ordneten<br />

an, dass nichts berührt werden dürfe, dass alles in<br />

ihre Zuständigkeit fiele. Objektiv gesehen wären natürlich<br />

nur die Leute vor Ort, diejenigen, die für Roullet-Decamps<br />

gearbeitet hatten oder noch arbeiteten, die einzigen wirklich<br />

Kompetenten für diese Automaten gewesen … Egal,<br />

man musste den « normalen » hierarchischen Weg einhalten,<br />

also abwarten, bis der Staat über seine Vertreterin, die<br />

Konservatorin des Lot, die Person bestimmte, die dann die<br />

Automaten offiziell aus ihren verstaubten Kartons holen<br />

durfte, um sie wieder zusammenzubauen, zu unterhalten,<br />

schließlich auszustellen und damit dieses Museum zu<br />

schaffen. Zu diesem Zeitpunkt hat man mich kontaktiert.<br />

Ich lebte damals in der Schweiz. Die Konservatorin hatte<br />

die Verbindung zwischen der Mechanik und der bekannten<br />

und renommierten Schweizer Uhrmacherkunst hergestellt<br />

und sich daher dort umgesehen. Ich erinnere mich, dass<br />

ich auf einer Karte nachsehen musste, wo Souillac liegt. Im<br />

ersten Augenblick war ich ein wenig erstaunt, aber angesichts<br />

der Chance, an einer solchen Sammlung arbeiten zu<br />

können, habe ich keine Sekunde gezögert. Und so bin ich<br />

schließlich 1989 nach Souillac gekommen.<br />

Das war also nicht nur für Deutschland und Europa ein besonderes<br />

Jahr, sondern auch für Sie<br />

Wahrhaftig! Bei meiner Ankunft stellte ich fest, dass<br />

die Automaten der Sammlung in einem erbärmlichen<br />

Zustand waren. Ich habe also Tag und Nacht gearbeitet.<br />

Ein Nachbar hat mir dann die Neuigkeit mitgeteilt. Er<br />

kam angerannt und rief: « Klaus, Klaus, … die Mauer ist<br />

gefallen! » Es ist verrückt, aber ich erinnere mich gut, dass<br />

die Nachricht so unglaublich war, dass sie mir im ersten<br />

Moment beinahe seltsam vorkam. Dann haben wir uns<br />

hingesetzt und Champagner getrunken! Mir wurde bewusst,<br />

dass ich mich nun nicht mehr mit meinen Eltern<br />

an einer Autobahntankstelle Richtung Berlin verabreden<br />

musste, um sie zehn Minuten lang heimlich zu treffen …<br />

Wie haben Sie sich in der Region eingelebt?<br />

Sehr gut. Am Anfang hat man mich sicher ein wenig<br />

für verrückt gehalten. Man muss wissen, dass ich zunächst<br />

etwas zurückgezogen lebte. Ich war derart davon<br />

begeistert, diese Automaten wieder zum Leben zu erwecken,<br />

dass ich meine Werkstatt nur selten verließ. Für<br />

mich war es wie in einem Kindertraum: Plötzlich hatte<br />

ich die schönsten Automaten der Welt vor mir. Und ich,<br />

der kleine Deutsche aus Leipzig, war für diese Sammlung<br />

32 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2016</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!