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Nr. 60 - Herbst 2016

Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt » Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ? Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes

Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt »
Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ?
Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere
Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes

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Eine Zwiebel mag noch so unbedeutend<br />

aussehen, dennoch kann sie<br />

das Leben einer ganzen Region<br />

verändern! Die Bewohner von Roscoff,<br />

Saint-Pol-de-Léon und Plouescat im Finistère<br />

wissen dies nur zu gut: Dieses Gemüse<br />

hat einen entscheidenden Anteil an<br />

der Entwicklung ihres kleinen, unberührten<br />

Winkels in der Bretagne, wo man<br />

sich heute angesichts der hübschen Dörfer<br />

und der mit den typischen blauen und rosafarbenen<br />

Hortensien gesäumten Straßen<br />

nur schwer vorstellen kann, dass Armut<br />

hier einmal sehr verbreitet war.<br />

Obwohl im äußersten Westen des<br />

französischen Festlandes eher die maritimen<br />

Landschaften den eigentlichen<br />

Reichtum auszumachen scheinen und<br />

immer mehr Touristen anziehen, war es<br />

paradoxerweise jedoch die Erde und nicht<br />

das Meer, die jahrhundertelang vielen<br />

Familien in Roscoff und Umgebung ein<br />

Einkommen gesichert hat. Im Umkreis<br />

von rund vierzig Kilometern um die Stadt<br />

gibt es nämlich einen sandigen und ganz<br />

besonders fruchtbaren Boden. In Verbindung<br />

mit dem sehr milden Klima – dem<br />

Golfstrom sei Dank –, bei dem Frost sehr<br />

selten ist, es dafür aber an regelmäßigen<br />

sanften Niederschlägen nicht mangelt<br />

– man spricht vom berühmten crachin<br />

breton (dem bretonischen Nieselregen)<br />

–, konnten die Bewohner dieser Gegend<br />

schon immer viele Gemüsesorten in außergewöhnlicher<br />

Qualität produzieren<br />

(Zwiebeln, Blumenkohl, Artischocken,<br />

weiße Rüben …), die auch heute noch den<br />

Ruf der Region ausmachen und in ganz<br />

Frankreich verkauft werden.<br />

Doch trotz dieses reichhaltigen Bodens<br />

und der zahlreichen Erzeugnisse, die<br />

sie darauf anbauen konnten, führten die<br />

Bauern hier lange Zeit ein sehr ärmliches<br />

Leben. Die überwiegende Zahl von ihnen<br />

hatte das Land, das sie bestellten, von reichen<br />

Grundbesitzern gepachtet, die sich<br />

nur wenig um die Lebensbedingungen<br />

dieser Menschen scherten. Insofern darf<br />

man sich von den schönen Fassaden der<br />

historischen Gebäude, die bei einem Besuch<br />

von Roscoff ins Auge stechen, nicht<br />

täuschen lassen. Sie zeugen zwar von der<br />

florierenden Vergangenheit einer Stadt,<br />

die seit dem Mittelalter mit Portugal,<br />

Spanien und England Handel getrieben<br />

hat, sie sollten jedoch die Armut derer,<br />

die dieses exportierte Gemüse produziert<br />

haben, nicht vergessen lassen: die Armut<br />

von Landarbeitern, die aufgrund des Arbeitsmangels<br />

ihre Arbeitskraft tageweise<br />

auf dem Place du Parvis in Saint-Pol für<br />

einen Hungerlohn anboten, der traditionell<br />

zu den niedrigsten in der Bretagne<br />

zählte.<br />

Neugierige Menschen, die durch<br />

Roscoff bummeln, sind vielleicht über ungewöhnliche<br />

Details an der Fassade eines<br />

hübschen Hauses erstaunt: An der Regenrinne<br />

hängen seltsame Zwiebelzöpfe<br />

und auf einem für Nichteingeweihte eher<br />

mysteriösen Schild steht Maison des Johnnies<br />

et de l’oignon geschrieben. Viele gehen<br />

daran vorbei, ohne das kleine weiße Tor<br />

zu öffnen. Das ist schade. Denn dahinter<br />

befindet sich ein sympathisches Museum,<br />

das von einer eher unbekannten Facette<br />

der Stadtgeschichte zeugt. Hier erfährt<br />

man, durch welche findige Idee einige<br />

Bretonen Mitte des 19. Jahrhunderts dem<br />

herrschenden Elend entkommen konnten:<br />

indem sie den Handel mit einem etwas<br />

anderen Gemüse aufbauten, nämlich mit<br />

der Zwiebel von Roscoff.<br />

Der Held von Roscoff heißt Henri<br />

Olivier. Die Armut trieb diesen 1808 geborenen<br />

Seemann und Bauern dazu, im<br />

Kampf um das Überleben neue Ideen zu<br />

entwickeln. Sein unternehmerischer Charakter<br />

führte ihn zunächst nach Paris, wo<br />

er Abnehmer für seine Erzeugnisse suchte.<br />

1828 kam ihm dann zu Ohren, dass<br />

in Großbritannien ein höherer Lebensstandard<br />

herrsche, da dort die industrielle<br />

Revolution viel schnellere Fortschritte als<br />

in Frankreich gemacht hatte. Es gelang<br />

ihm, vier Freunde davon zu überzeugen,<br />

gemeinsam mit ihm ein kleines Boot<br />

zu chartern, es mit Zwiebeln zu beladen<br />

– ein Gemüse, das es in Roscoff im<br />

Überfluss gab und das sich gut lagern lässt<br />

– und zu versuchen, diese Zwiebeln jenseits<br />

des Ärmelkanals zu verkaufen. Die<br />

Idee erschien verrückt. Und doch war sie<br />

ein voller Erfolg: Kurze Zeit später kehrten<br />

die fünf Freunde zurück, nachdem sie<br />

ihre ganze Ladung verkauft und damit<br />

einen neuen Markt entdeckt hatten, der<br />

den Bauern in Roscoff vielversprechende<br />

Möglichkeiten erschloss. Henri Olivier<br />

wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht,<br />

dass die Zwiebel für ihn und viele andere<br />

die Rettung sein würde.<br />

Im Maison des Johnnies<br />

et de l’oignon in Roscoff<br />

kann man neben<br />

zahlreichen Fotos, welche<br />

die Johnnies beim Verkauf<br />

ihrer Zwiebeln in England<br />

zeigen, auch mehrere<br />

symbolträchtige Objekte<br />

entdecken, beispielsweise<br />

eines ihrer Fahrräder.<br />

Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2016</strong> · 79

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