Nr. 60 - Herbst 2016

UNTERWEGS IN FRANKREICH Val de Loire
Von oben nach unten und von
links nach rechts: Sviatoslav
Richter bei seinem ersten
Besuch in der Grange de
Meslay; auf dem Quai des
Bahnhofs in Saint-Pierre-des-
Corps; Jessye Norman 1982 bei
einem Konzert in der Grange;
Sviatoslav Richter 1993 in der
Grange mit René Martin, der
immer noch künstlerischer Leiter
des Festivals ist; das Via Nova
Quartett spielt mit den Hühnern
der Grange, ein Zeugnis der
lockeren Atmosphäre, die dort
herrscht; ein Konzert in diesem
Sommer in der Grange.
Ein einmaliges Landwirtschaftsgebäude
aus dem 13. Jahrhundert
Wie in so vielen anderen Gebäuden, die in Europa im
Umfeld reicher Abteien gebaut wurden, um die durch die
Bewirtschaftung des dortigen Grund und Bodens produzierten
Erzeugnisse zu lagern, waren in der Grange de
Meslay lange Zeit « nur » Stroh, Heu und Korn untergebracht.
Dabei ist diese Scheune in ihrer Art einzigartig:
Während sich die meisten Abteien mit Speichern viel bescheidenerer
Ausmaße zufriedengaben, haben die Mönche
der nur wenige Kilometer entfernt liegenden, mächtigen
und reichen Abbaye de Marmoutier um 1220 auf einer
Fläche von insgesamt zwei Hektar ein monumentales
Bauwerk, eine regelrechte « Wehr-Burg » errichtet, die mit
einer imposanten Mauer umgeben ist und mehrere Gebäude
umfasst. So entstand diese außergewöhnliche Anlage
mit einer Scheune, die alleine bereits 60 Meter lang und
25 Meter breit ist und auf deren mehr als vier Meter dicken
Mauern ein Ziegeldach mit riesigen Ausmaßen ruht.
Für den – perfekt erhaltenen – Dachstuhl mussten seinerzeit
die schönsten Eichen aus den umliegenden Wäldern
gefällt werden, und noch heute beeindruckt er durch seine
Architektur, die sowohl an eine Kathedrale aus Holz als
auch an ein Meisterwerk des Schiffsbaus erinnert. Zahlreiche
Details zeugen davon, dass die Erbauer beeindrucken
und die Macht der Abtei unterstreichen wollten,
wie dies auch die imposante Rosette auf der gewaltigen
Eingangstür zum Gut zeigt, deren Motiv dem der Rosette
im nördlichen Querschiff der Kathedrale von Chartres
entspricht. In Europa gibt es heute nur noch zwei Scheunen
aus derselben Epoche, die ebenso gut erhalten und
mit der Grange de Meslay vergleichbar sind, obschon sie
wesentlich bescheidenere Ausmaße haben: Vaulerent im
Norden von Paris und Ter Doest in Belgien, in der Nähe
von Bruges. Selbst ohne Konzertbesuch ist die Grange de
Meslay also bereits einen Besuch wert.
Eine nervenaufreibende Auktion bei brennender Kerze
Obwohl die Grange de Meslay ein monumentales Gebäude
war – oder vielleicht gerade weil sie, wie so viele andere
Besitztümer der Kirche, zu auffällig war –, wurde sie
während der Französischen Revolution beschlagnahmt.
Die neu gewählte Nationalversammlung wollte die Macht
der geistlichen Orden einschränken beziehungsweise aus-
58 · Frankreich erleben · Herbst 2016