FRANKREICH HEUTE Geschichte Die Johnnies die Lieblingsfranzosen der Engländer Seit 188 Jahren überqueren Bretonen aus Roscoff und umliegenden Gemeinden im Finistère Jahr für Jahr den Ärmelkanal, um in England ihre berühmten rosa Zwiebeln zu verkaufen, eine Sorte, die als der « Rolls-Royce » unter den Zwiebeln angesehen wird. Von diesem erstaunlichen Handel abgesehen erzählt ihre Geschichte auch vom Kampf mutiger Frauen und Männer, für die der Ärmelkanal niemals ein Hindernis war und die damit auf ihre Art Vorreiter in Sachen Freizügigkeit waren. Für sie war es die natürlichste Sache der Welt, Geschäfte mit Großbritannien zu betreiben. Dadurch haben sie nicht nur ihren Lebensunterhalt verdient, sondern auch eine dauerhafte Freundschaft zu diesem Land und seinen Bewohnern aufgebaut. 78 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2016</strong>
Eine Zwiebel mag noch so unbedeutend aussehen, dennoch kann sie das Leben einer ganzen Region verändern! Die Bewohner von Roscoff, Saint-Pol-de-Léon und Plouescat im Finistère wissen dies nur zu gut: Dieses Gemüse hat einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung ihres kleinen, unberührten Winkels in der Bretagne, wo man sich heute angesichts der hübschen Dörfer und der mit den typischen blauen und rosafarbenen Hortensien gesäumten Straßen nur schwer vorstellen kann, dass Armut hier einmal sehr verbreitet war. Obwohl im äußersten Westen des französischen Festlandes eher die maritimen Landschaften den eigentlichen Reichtum auszumachen scheinen und immer mehr Touristen anziehen, war es paradoxerweise jedoch die Erde und nicht das Meer, die jahrhundertelang vielen Familien in Roscoff und Umgebung ein Einkommen gesichert hat. Im Umkreis von rund vierzig Kilometern um die Stadt gibt es nämlich einen sandigen und ganz besonders fruchtbaren Boden. In Verbindung mit dem sehr milden Klima – dem Golfstrom sei Dank –, bei dem Frost sehr selten ist, es dafür aber an regelmäßigen sanften Niederschlägen nicht mangelt – man spricht vom berühmten crachin breton (dem bretonischen Nieselregen) –, konnten die Bewohner dieser Gegend schon immer viele Gemüsesorten in außergewöhnlicher Qualität produzieren (Zwiebeln, Blumenkohl, Artischocken, weiße Rüben …), die auch heute noch den Ruf der Region ausmachen und in ganz Frankreich verkauft werden. Doch trotz dieses reichhaltigen Bodens und der zahlreichen Erzeugnisse, die sie darauf anbauen konnten, führten die Bauern hier lange Zeit ein sehr ärmliches Leben. Die überwiegende Zahl von ihnen hatte das Land, das sie bestellten, von reichen Grundbesitzern gepachtet, die sich nur wenig um die Lebensbedingungen dieser Menschen scherten. Insofern darf man sich von den schönen Fassaden der historischen Gebäude, die bei einem Besuch von Roscoff ins Auge stechen, nicht täuschen lassen. Sie zeugen zwar von der florierenden Vergangenheit einer Stadt, die seit dem Mittelalter mit Portugal, Spanien und England Handel getrieben hat, sie sollten jedoch die Armut derer, die dieses exportierte Gemüse produziert haben, nicht vergessen lassen: die Armut von Landarbeitern, die aufgrund des Arbeitsmangels ihre Arbeitskraft tageweise auf dem Place du Parvis in Saint-Pol für einen Hungerlohn anboten, der traditionell zu den niedrigsten in der Bretagne zählte. Neugierige Menschen, die durch Roscoff bummeln, sind vielleicht über ungewöhnliche Details an der Fassade eines hübschen Hauses erstaunt: An der Regenrinne hängen seltsame Zwiebelzöpfe und auf einem für Nichteingeweihte eher mysteriösen Schild steht Maison des Johnnies et de l’oignon geschrieben. Viele gehen daran vorbei, ohne das kleine weiße Tor zu öffnen. Das ist schade. Denn dahinter befindet sich ein sympathisches Museum, das von einer eher unbekannten Facette der Stadtgeschichte zeugt. Hier erfährt man, durch welche findige Idee einige Bretonen Mitte des 19. Jahrhunderts dem herrschenden Elend entkommen konnten: indem sie den Handel mit einem etwas anderen Gemüse aufbauten, nämlich mit der Zwiebel von Roscoff. Der Held von Roscoff heißt Henri Olivier. Die Armut trieb diesen 1808 geborenen Seemann und Bauern dazu, im Kampf um das Überleben neue Ideen zu entwickeln. Sein unternehmerischer Charakter führte ihn zunächst nach Paris, wo er Abnehmer für seine Erzeugnisse suchte. 1828 kam ihm dann zu Ohren, dass in Großbritannien ein höherer Lebensstandard herrsche, da dort die industrielle Revolution viel schnellere Fortschritte als in Frankreich gemacht hatte. Es gelang ihm, vier Freunde davon zu überzeugen, gemeinsam mit ihm ein kleines Boot zu chartern, es mit Zwiebeln zu beladen – ein Gemüse, das es in Roscoff im Überfluss gab und das sich gut lagern lässt – und zu versuchen, diese Zwiebeln jenseits des Ärmelkanals zu verkaufen. Die Idee erschien verrückt. Und doch war sie ein voller Erfolg: Kurze Zeit später kehrten die fünf Freunde zurück, nachdem sie ihre ganze Ladung verkauft und damit einen neuen Markt entdeckt hatten, der den Bauern in Roscoff vielversprechende Möglichkeiten erschloss. Henri Olivier wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass die Zwiebel für ihn und viele andere die Rettung sein würde. Im Maison des Johnnies et de l’oignon in Roscoff kann man neben zahlreichen Fotos, welche die Johnnies beim Verkauf ihrer Zwiebeln in England zeigen, auch mehrere symbolträchtige Objekte entdecken, beispielsweise eines ihrer Fahrräder. Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2016</strong> · 79