Nr. 60 - Herbst 2016
Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt » Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ? Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes
Vallée de la Dordogne: Wo man « wie Gott in Frankreich lebt »
Saint-Germain-des-Près: die Seele von Paris ?
Occitanie; Sigean: das Reservat der Glücklichen Tiere
Chantals Rezept: Tarte d'automne aux champignons à la farine de châtaignes
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FRANKREICH HEUTE Geschichte<br />
Oben und rechte Seite:<br />
Innen- und Außenansichten<br />
des Maison des Johnnies et<br />
de l‘oignon und die Kapelle<br />
der Heiligen Barbara.<br />
Roscoff und Zwiebeln, das ist eine<br />
lange Geschichte. Bereits im 16. Jahrhundert<br />
verkaufte man dieses Gemüse auf den<br />
Märkten in der Region, und sie genoss einen<br />
guten Ruf, den sie bis heute nicht verloren<br />
hat. Sie ist länger lagerfähig als ihre<br />
Konkurrentinnen und übersteht mehrere<br />
Monate, ohne zu verderben. Sie hat einen<br />
besonderen Geschmack und eine hellrosa<br />
Farbe, die vermutlich dem Tang zuzuschreiben<br />
ist, den man an den Stränden<br />
einsammelt und als Dünger benutzt.<br />
Die Initiative von Henri Olivier, diese<br />
hochwertigen Zwiebeln nach Großbritannien<br />
zu exportieren, kam zur richtigen<br />
Zeit: Zwischen 1801 und 1901 war die<br />
Bevölkerung dort von 16 auf 45 Millionen<br />
Einwohner angestiegen, und durch die<br />
industrielle Revolution waren neue Berufe<br />
entstanden. Die ländliche Bevölkerung<br />
hatte dagegen um 29 % abgenommen. Das<br />
Land stand vor vollendeten Tatsachen: Es<br />
gab nicht mehr genügend Landwirte, um<br />
alle Menschen zu ernähren. Man musste<br />
also importieren.<br />
Zwiebeln sind zwar kein Grundnahrungsmittel,<br />
aber sie sind relativ günstig,<br />
man kann sie roh, gekocht oder gebraten<br />
verwenden und mit ihnen viele Gerichte<br />
würzen. Als Zwiebelsuppe zubereitet sind<br />
sie ein eigenständiges Gericht, das zusammen<br />
mit etwas Brot den Hunger stillt.<br />
Die Engländer kannten dieses Gemüse<br />
bereits gut und konsumierten viel davon.<br />
Bald war die Zwiebel aus Roscoff ihre<br />
Lieblingszwiebel.<br />
Nach der erfolgreichen Reise von<br />
Henri Olivier entwickelte sich im Laufe<br />
der Jahre in Roscoff ein ganzer Wirtschaftszweig<br />
mit Unternehmen, die 15 bis<br />
30 Mitarbeiter und mehr beschäftigten.<br />
1902 waren es 72. Jedes Jahr trafen sich<br />
die Zwiebelproduzenten, am Tag nach<br />
dem Fest der Heiligen Barbara, jeweils<br />
am dritten Sonntag und Montag im Juli,<br />
am Alten Hafen von Roscoff. Nach einer<br />
Prozession mit ihren Familien zur kleinen<br />
Kapelle der Heiligen Barbara – die immer<br />
noch oberhalb des Alten Hafens steht<br />
– begaben sie sich auf ihre mit der Zwiebelernte<br />
beladenen Boote. Viele von ihnen<br />
sahen ihre Familien erst an Weihnachten<br />
wieder.<br />
Je nach den Wetterbedingungen dauerte<br />
die Überfahrt eine oder auch mehrere<br />
Wochen. In England angekommen,<br />
suchten die bretonischen Zwiebelerzeuger<br />
dann einen Ort, an dem sie leben und<br />
ihre Ware lagern konnten, und wurden<br />
zu Verkäufern. Die meisten sprachen<br />
zunächst kein Englisch und mussten feststellen,<br />
dass es dort eine andere Währung<br />
gab. Da jedoch Walisisch und Bretonisch<br />
verwandte Sprachen sind, funktionierte<br />
die Kommunikation nicht einmal so<br />
schlecht, und die Bretonen lernten schnell<br />
die ersten wichtigen Sätze wie: « Would<br />
you like some onions, please? » Die französischen<br />
Zwiebelverkäufer waren in<br />
England zunächst zu Fuß unterwegs, auf<br />
der Schulter trugen sie einen langen Stab,<br />
an dem manchmal bis zu 50 kg Zwiebeln<br />
hingen. Später zogen sie dann mit dem<br />
Fahrrad und schließlich mit einem Lieferwagen<br />
übers Land und, so erstaunlich<br />
es auch erscheinen mag, eroberten die<br />
Herzen der Menschen dort. Zunächst<br />
waren die Engländer zwar etwas ungehalten<br />
über diese oft sturen Verkäufer, die<br />
nicht davor zurückschreckten, durch die<br />
Hintertür zu kommen, wenn man ihnen<br />
den Zutritt durch den Haupteingang<br />
untersagte. Doch schließlich lernten sie,<br />
deren legendäre gute Laune zu schätzen<br />
und amüsierten sich über den lustigen<br />
französischen Akzent. Vor allem aber<br />
überzeugte die Zwiebel aus Roscoff durch<br />
ihre Qualität, sodass man sie jedes Jahr<br />
aufs Neue wieder sehnlichst erwartete.<br />
Im Laufe der Jahre wurden so Hunderte<br />
Tonnen Zwiebeln aus Roscoff<br />
importiert und die umherziehenden französischen<br />
Zwiebelverkäufer wurden Teil<br />
des britischen Landschaftsbildes. Auch<br />
wenn ihre Ankunft für den nahenden<br />
<strong>Herbst</strong> und Winter stand, schätzte man<br />
sie enorm. Dies ging so weit, dass man<br />
ihnen liebevolle Spitznamen verpasste,<br />
die von den französischen Vornamen Jean<br />
oder Jean-Yves abgeleitet waren, die viele<br />
von ihnen trugen: Die Engländer nannten<br />
sie Johnny Onions, die Schotten Ingan<br />
Johnnies und die Waliser Shoni Onions.<br />
Da diese Bretonen nach ihrer Rückkehr<br />
immer gern von ihren Erlebnissen berichteten,<br />
nannte man sie seitdem die Johnnies<br />
de Roscoff.<br />
Gewissermaßen waren die bretonischen<br />
Zwiebelhändler also Vorreiter in<br />
Sachen Freihandel und Freizügigkeit<br />
in Europa. Da diese Art zu handeln<br />
dem heutigen Konsumverhalten jedoch<br />
80 · Frankreich erleben · <strong>Herbst</strong> <strong>2016</strong>