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Praktiken des New Age lassen sich dabei relativ
widerstandsfrei in den traditionellen religiösen Alltag
des flexiblen Hindus integrieren. Sie setzen
weder eine Entfremdung von der religiösen Tradition
noch einen Bruch mit ihr voraus. Ob man sogenannte
traditionelle religiöse Praktiken verfolgt
oder aber Kristalle in den Taschen trägt und sich im
Gläserrücken übt, erregt die Gemüter in Indien
nicht übermäßig, denn die Ausübung religiöser
Praktiken ist hier schon immer eine ausgeprägt individuelle
Angelegenheit gewesen. Ein Hindu kann
Heiligenfiguren anderer Religionen problemlos
neben hinduistischen Göttern im Hausaltar verehren,
ebenso wie sich in der städtischen Mittelschicht
New-Age-Importe aus westlichen Industrienationen
spannungsfrei mit bestehenden Religionspraktiken
vereinen lassen.
Mit dem Einzug des New Age in Metropolen wie
Bombay, Delhi oder Bangalore etablieren sich nicht
nur neue Praktiken wie beispielsweise Reiki, Pranic
Healing, Lama Fera, Tarot oder Feng-Shui, sondern
auch Begriffe und Konzepte des indischen Kulturraumes
– beispielsweise die altindische Araa-Lehre –
werden aus dem Westen rückimportiert. Kurse zur
Stressbewältigung komplett mit Meditations- oder
Yogaübungen stehen genauso auf dem Programm
wie Astrologie, Aromatherapie, ägyptisches Tarot,
Bach-Blüten, Aura-Lesen, Magnet-Heilung, Zen
oder Channeling.
Egal wie „verwestlicht“ der flexible Hindu auch
sein mag, die Beibehaltung spezifischer Fastengelübde,
das Aufsuchen von Pilgerorten, die Hinwendung
zu Gurus oder die Integration von New-
Age-Praktiken geben ihm einen Rückbezug zur
Tradition und eine positive Bestätigung seiner Identität.
Die Antwort des flexiblen Hindus auf die
Moderne ist nicht die Abwendung von seiner religiösen
Tradition, sondern vielmehr ihre Umgestaltung
und Anpassung an seine veränderten Lebensverhältnisse.
Der Hindu-Nationalist mag diese offene Haltung
des flexiblen Hindus missbilligen und in ihm den indischen
Vorläufer der Globalisierung sehen. Er mag
die Religiosität des flexiblen Hindus als „karnevalistisch“
abwerten und auf ihn herabschauen, wenn er
sich ohne Differenzierung mit religiösen Stilelementen
schmückt, die sich aus allen Teilen dieses
Globus und aus verschiedensten Geschichtsepochen
zusammenfinden, ohne dass der Mensch ein
Gespür für Rituale und geschichtliche Epochen entwickelt,
die diesen Elementen einst ihre Integrität
verliehen. Dennoch kann der Hindu-Nationalist
den flexiblen Hindu – aus Gründen der Offenheit
und Toleranz – nicht aus der hinduistischen Gemeinschaft
ausschließen. Ein solcher Ausschluss
wäre für den Hindu-Nationalisten ein Verrat an
einer seiner größten Ikonen, an dem Aktivisten-
Mönch Swami Vivekananda, dessen eindringliche
Worte er häufig zitiert: „Wir tolerieren nicht nur,
sondern wir akzeptieren jede Religion, wir beten in
den Moscheen der Mohammedaner, verehren den
Feueraltar der Zoroaster und knien vor dem Kreuz
der Christen, wohl wissend, dass alle Religionen einschließlich
des niedrigsten Fetischismus der
menschlichen Seele viele Bemühungen kosten, das
Unendliche zu erfassen und zu realisieren – ein jeder
determiniert durch seine Umstände, seine Geburt
und Beziehungen.“
Bei allen Unterschieden ist die Verquickung religiöser
Ideale Hindu-nationalistischer Bewegungen
mit der Wertbildung der aufsteigenden städtischen
Mittelschicht vielfach beobachtet worden. Es wird
allerdings leicht übersehen, dass die konsumorientierte
Mittelklasse hinsichtlich ihrer Interessen in
der Lebensgestaltung sowohl größter Träger als auch
der am meisten gefürchtete innere Feind Hindunationalistischer
Bewegungen ist. Der flexible
Hindu identifiziert sich mit einer Vielzahl der religiösen
und kulturellen Werte nationalistischer
Gruppen, zum Beispiel der Angst vor einer kulturellen
„Verwestlichung“ und dem Übergriff einer
aggressiven muslimisch-arabischen Welt. Er ist aber
genauso auch „Rattenfänger“ einer ganzen Generation:
Im Establishment fest verwurzelt, ist der englischsprechende,
meinungsbildende flexible Hindu
in der indischen Gesellschaft ein Segment, das eine
ominöse Konkretisierung einer ansonsten abstrakten
globalen Bedrohung ist. Er wird für den Hindu-
Nationalisten zu einer Bedrohung aufgrund seiner
Offenheit gegenüber der liberalen oder vielmehr
„unzüchtigen“ westlichen Sexualmoral, die auch
durch Fernsehprogramme und Werbung, wie beispielsweise
Körperpflege und Mode, in die Hindufamilien
getragen wird. Der Hindu-Nationalist protestiert
– häufig im stillen Einverständnis mit dem
Traditionalisten – gegen die Allgegenwart, Bedeutung
und Manifestation des sexuellen Selbst, das im
westlichen Kunst- und Literaturdiskurs des 20. Jahrhunderts
so zentral ist. Er degradiert Schönheitswettbewerbe
oder freiere Geschlechtermischung als
eine Form der „kulturellen Verschmutzung“ und
verdammt alle Erscheinungsformen der Modernität,
die die Sinne erregen, statt sie zu beruhigen;
die das sinnliche Feuer schüren, statt seine Flammen
zu löschen.
„Lasst uns die Hindus zum Hinduismus bekehren,
und alles wird gut werden“, ist dementsprechend
einer der Schlachtrufe des Hindu-Nationalisten
unter Berufung auf Swami Chinmayananda, einen
der Gründer der VHP – eine Aufgabe, die von Seiten
des Hindu-Nationalisten ironischerweise „Missionseifer“
erfordert.
Verkürzt ausgedrückt, Hindu-Nationalist und flexibler
Hindu sind „Vettern“, die in ihrer Weltanschauung
Aspekte des hinduistischen grand récit
teilen, zugleich aber in einer Spannung zueinander
stehen, die sich in naher Zukunft wohl kaum auflösen
wird.
Der Text ist ein vom Autor überarbeiteter Auszug aus dem
Manuskript von Sudhir und Katharina Kakar, Die Inder.
Porträt einer Gesellschaft, C. H. Beck, München 2006
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