netzwerke in der demokratie diewelt auf französisch ... - Die Gazette
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die def<strong>in</strong>itive Aufgabe <strong>der</strong> Petrochemiefabriken<br />
durch die amerikanische Firma Dow Chemical.<br />
Mögen diese Bereiche auch erst <strong>in</strong> Zukunft stillgelegt<br />
werden: Schon heute strahlt das Gebiet jene<br />
depressive Aura abgewickelter Groß<strong>in</strong>dustrie aus,<br />
wie sie auch die stillgelegten Betriebe <strong>in</strong> Bitterfeld<br />
o<strong>der</strong> Eisenhüttenstadt vermitteln: abgedeckte Industriehallen,<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong>en Bodenpfützen sich <strong>der</strong> Himmel<br />
spiegelt und Gras wächst, dazwischen das rostige<br />
Skelett <strong>der</strong> Calatrava-Brücke für den Canale<br />
Grande, die nicht passte und nun seit Jahren halbherzig<br />
nachgebessert wird, und <strong>in</strong> den Ru<strong>in</strong>en<br />
pseudo-optimistische Firmenbesitzer, die müde von<br />
e<strong>in</strong>er Hoffnung <strong>auf</strong> die künftige Ansiedlung mo<strong>der</strong>ner<br />
<strong>Die</strong>nstleister sprechen. Nur: Wer die gigantischen<br />
stillgelegten Flächen sieht, vermag sich e<strong>in</strong><br />
künftiges Leben hier kaum vorzustellen.<br />
<strong>Die</strong> Stadt ist <strong>in</strong> dieser Lage hilflos. Wer hier lebt,<br />
beklagt e<strong>in</strong> völliges Fehlen von Politik. Zwar sehnen<br />
sich die politisch Verantwortlichen etwas unspezifisch<br />
nach „Young Urban Professionals“, etwa 30jährigen<br />
städtischen <strong>Die</strong>nstleistern, die die Stadt lieben,<br />
pflegen und f<strong>in</strong>anzieren könnten. Tatsächlich<br />
aber bietet Venedig für e<strong>in</strong>e solche Klientel ke<strong>in</strong>erlei<br />
Infrastruktur. Schlimmer noch, sagt Thomas Krämer-Badoni,<br />
die Stadt führe über die Notwendigkeit<br />
<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nicht e<strong>in</strong>mal die notwendige<br />
Debatte. Als Beispiel für die Lethargie nennt er<br />
den gescheiterten Versuch im Vorfeld <strong>der</strong> Expo<br />
2000, <strong>der</strong> Stadt mo<strong>der</strong>ne Impulse zu geben. Und er<br />
stellt fest, dass die damaligen Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>er e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung<br />
– Teile <strong>der</strong> Bevölkerung, l<strong>in</strong>ke Splittergruppen<br />
und die <strong>in</strong>ternationale Venedig-Lobby,<br />
etwa <strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> Unesco – seit ihrem Erfolg vom<br />
Erdboden verschwunden seien.<br />
So dämmern viele Bereiche Venedigs leblos vor<br />
sich h<strong>in</strong>. Weite Teile <strong>der</strong> Sistieri (Viertel) Dorso<br />
Duro, San Marco und Giudecca stehen leer, desgleichen<br />
e<strong>in</strong>ige etwas weiter außerhalb gelegene Inseln<br />
des Archipels, die früher selbstverständlich <strong>in</strong> die<br />
Stadt e<strong>in</strong>gebunden waren.<br />
Nur mit e<strong>in</strong>em privat gecharterten Boot ist heute<br />
etwa die Insel Sacca Séssola zu erreichen. 1870, als<br />
mit dem Ausbau des Handelshafens <strong>in</strong> Santa Marta<br />
große Mengen Sand und Bauschutt freiwurden,<br />
baute man die Insel zunächst als Treibstoffmittel-<br />
Depot aus, später legten die Venezianer hier Gärten<br />
und We<strong>in</strong>berge an. Als 1911 die Cholera ausbrach,<br />
errichtete die Kommune <strong>auf</strong> Teilen <strong>der</strong> Inseln e<strong>in</strong><br />
Krankenhaus, <strong>in</strong> das ab 1914 auch Tuberkulose-<br />
Kranke e<strong>in</strong>geliefert wurden. E<strong>in</strong> Um- und Ausbau<br />
erfolgte <strong>in</strong> den dreißiger Jahren, e<strong>in</strong>e Kirche wurde<br />
errichtet. Mit se<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen Ausstattung und<br />
Betten für bis zu 440 Patienten, dem gemäßigten<br />
Klima und herrlichen mediterranen Parkanlagen<br />
stieg San Séssola zu e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> beliebtesten Kl<strong>in</strong>iken<br />
Europas <strong>auf</strong>. Das Ende kam 1980, als die Fundamente<br />
<strong>der</strong> Insel erste Schäden <strong>auf</strong>wiesen. Das Hospital<br />
musste schließen. Seit 1995 bef<strong>in</strong>det sich das<br />
Gelände unter <strong>der</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Unesco, die die<br />
Park- und Gebäudeanlagen notdürftig unterhält<br />
und versucht, die Insel vor Vandalismus zu schützen.<br />
Im Internet bietet die Città di Venezia die 17,5<br />
Hektar große Insel an – sie hofft <strong>auf</strong> Investoren, die<br />
Sacca Séssola zu e<strong>in</strong>er Hotelanlage umbauen. Man<br />
darf gespannt se<strong>in</strong>.<br />
An<strong>der</strong>norts gab es bereits Versuche, nicht-touristisches<br />
Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt zu halten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> anzusiedeln<br />
– etwa <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Lagunenseite des Sistiero Giudecca.<br />
Auf dem Gelände <strong>der</strong> ehemaligen Uhrenfabrik<br />
Junghans s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den letzten Jahren neue<br />
Wohnungen entstanden. Das Projekt hat <strong>in</strong>ternational<br />
Furore gemacht – lange vor se<strong>in</strong>er Fertigstellung<br />
im Jahre 2002 konnte man die Entwürfe des<br />
italienischen Architekten C<strong>in</strong>o Zucchi <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachpresse<br />
bewun<strong>der</strong>n. Mo<strong>der</strong>n, hell und licht wirken<br />
die Gebäude mit ihren spielerischen Glaselementen,<br />
aber ihr steriler Charme reicht nicht im Ger<strong>in</strong>gsten<br />
an die historischen Bauten Venedigs heran. <strong>Die</strong><br />
Gegend sche<strong>in</strong>t nach wie vor unbelebt, und ob diese<br />
Maßnahmen wirklich „echte“, italienische Venezianer<br />
an die Stadt b<strong>in</strong>den, darf bezweifelt werden – e<strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>facher Blick <strong>auf</strong> die Kl<strong>in</strong>gelschil<strong>der</strong> genügt, und<br />
man sieht, dass die Häuser, sofern sie überhaupt<br />
bezogen s<strong>in</strong>d, von vielen Auslän<strong>der</strong>n bewohnt werden.<br />
Es s<strong>in</strong>d Ferienwohnungen, Zweitwohnsitze,<br />
Spekulationsobjekte.<br />
Was aber passiert, wenn die Stadt gar nicht mehr<br />
von E<strong>in</strong>heimischen bevölkert wird? Wenn sie, immer<br />
noch atemberaubend schön, aber nur als re<strong>in</strong>e<br />
Kulissenlandschaft weiterbesteht? Stirbt dann auch<br />
<strong>der</strong> Tourismus – o<strong>der</strong> wird Venedig tatsächlich zum<br />
Themenpark mit Öffnungszeiten von 9 bis 21 Uhr?<br />
Wenn das nicht geschehen soll, muss die Stadt jetzt<br />
handeln, sonst bleiben ihr <strong>auf</strong> Dauer auch jene Besucher<br />
weg, die – an<strong>der</strong>s als die mit Lunchpaketen<br />
bepackten Tagestouristen – Geld <strong>in</strong> die Stadt br<strong>in</strong>gen.<br />
Krämer-Badoni sieht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em qualitativ<br />
höheren, deutlich teureren Tourismus e<strong>in</strong>e Überlebenschance<br />
– <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tourismus, <strong>der</strong> weltweite<br />
Aufmerksamkeit für die e<strong>in</strong>zigartigen Kunstschätze<br />
Venedigs garantiert und damit <strong>in</strong>ternationale Geldgeber<br />
zu <strong>der</strong>en Erhalt bewegt. Und <strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
anspruchsvolles Programm bedient, das den venezianischen<br />
Händlern und <strong>Die</strong>nstleistern Arbeit gibt.<br />
Den Charme von Städtereisen prägt entscheidend<br />
die e<strong>in</strong>heimische Bevölkerung und mit ihr e<strong>in</strong> spezifisches<br />
urbanes Leben. Es ist das Flair, <strong>der</strong> Geruch<br />
des alltäglichen Lebens, <strong>der</strong> Touristen nach Istanbul<br />
lockt, nach Krakau, Lubljana, Lissabon, Barcelona.<br />
Und vielleicht ist <strong>in</strong> Venedig noch mehr als <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Städten Europas das geheimnisvolle Leben <strong>der</strong><br />
Grund e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Anziehungskraft. Ganze<br />
Literaturen s<strong>in</strong>d über die Stadt und ihre E<strong>in</strong>wohner<br />
verfasst worden – von Goethe, Dickens, Rilke,<br />
Henry James, Patricia Highsmith, Thomas Mann,<br />
um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen. Nicht zu vergessen die<br />
Krim<strong>in</strong>alromane von Donna Leon, e<strong>in</strong>er seit 1981<br />
<strong>in</strong> Venedig lebenden amerikanischen Schriftsteller<strong>in</strong>,<br />
die bezeichnen<strong>der</strong>weise nie, nie vom schrump-