netzwerke in der demokratie diewelt auf französisch ... - Die Gazette

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schaffen kann. Bezogen auf Gruppen und größere
Kollektive wie Staaten und Nationen sind die
Abläufe ähnlich: Zwar sind diese komplexer, vielgestaltiger
und widersprüchlicher; aber so wie Großgruppen,
etwa Ethnien, Staaten und Nationen, ein
gedachtes gemeinsames Selbstwertgefühl, einen
kollektiven Narzissmus besitzen, der wie ein Kleid
um das Selbst der Individuen sitzt und dieses
schützt, kann es auch zu einer tödlichen Kränkung
dieses kollektiven Narzissmus kommen.
Am Anfang einer solchen Kränkung steht der narzisstische
Fusionswunsch: d.h. die Lust an der Verschmelzung
mit dem als omnipotent vermuteten
Objekt. So wurde die westliche Zivilisation in den
vergangenen drei Jahrhunderten von zahlreichen
Muslimen als omnipotent erlebt. Viele wollten teilhaben
an der vermuteten Omnipotenz der zuerst
kolonialisierenden, dann sie freisetzenden Gesellschaft
und Zivilisation. Aber die Sehnsucht nach
Verschmelzung wurde stets auch von einem Wunsch
nach Abgrenzung begleitet, der Absicht, die eigene
muslimische Identität zu bewahren. Dabei kam es
nach und nach zu sehr unterschiedlichen Formen
individueller und kultureller Abwehrbewegungen,
die als „Entwicklungshemmung“ zu beschreiben
sind und schließlich in dem heutigen Phänomen des
dschihadistischen Kampfes kulminieren. Die
ersehnte Fusion mit der gefühlten Potenz des
Westens und die gleichzeitige Furcht, sich in ihr aufzulösen,
wurden so übermächtig, dass schließlich
der gegenwärtige Zirkel von Mord und Selbstmord
in Gang gesetzt wurde.
In diesem Prozess handelt es sich nicht
nur um das Ausleben einer angenommenen Opferrolle,
sondern auch um die Freisetzung von Phantasien:
Anders wären die verbrecherischen Taten nicht
zu bewältigen.
Mohammed Atta, der in einer medial ausgeleuchteten
Propagandaschlacht gegen die USA den Nordturm
des World Trade Centers zum Einsturz
brachte, hat in seinen hinterlassenen Aufzeichnungen
mitgeteilt, welche individuellen Phantasien
seine Mordtat begleiteten: Er reinigte sich ausführlich
vor seiner Tat, keine Frau sollte bei seinem
Begräbnis (sic) anwesend sein, die narzisstisch phantasierte
„Reinheit“ war sein Programm, gerade auch
vor und während des Tötungsaktes. Für seine Tat
wähnte er sich künftig belohnt, weil er glaubte, dass
ihn im Himmel zahlreiche Jungfrauen erwarteten.
Vamik Volkan, Psychoanalytiker türkischer Herkunft
in Washington, erzählt von islamistischen
Camps für Kriegswaisen aus Palästina, in denen
Kinder mit dem generellen Nachnamen „Arafat“ zu
Selbstmordattentätern erzogen werden: Sie kennen
keine Mutter, überhaupt keine Frauen, sie haben
nur ein kollektives Ich. Bei beginnender Geschlechtsreife
werden den Kriegswaisen Frauen im
Himmel versprochen, in deren Genuss sie allerdings
erst nach vollzogenem Selbstmordattentat für die
Sache des Islam gelangen können.
Sigmund Freud hat in seiner Arbeit Massenpsychologie
und Ich-Analyse (1921) beschrieben, wie es
möglich ist, dass Menschen in der Masse kollektiv
ihr vernunftgeleitetes Ich abgeben und an seine
Stelle ein gemeinsames Objekt setzen. Wenn nämlich
Individuen in der Masse regredieren, setzen sie
an die Stelle ihres individuellen Ich ein gemeinsames
Objekt, mit dem sie sich gemeinsam identifizieren.
So handeln sie ohne individuelle Verantwortung,
losgelöst von persönlicher Schuld, als ein Wesen.
Grundlage für das Ersetzen des Ich durch ein
Objekt ist die menschliche Bereitschaft zu libidinöser
Hingabe, die Fähigkeit, selbstlos im Dienst eines
Anderen die Ziele eines Anderen zu erfüllen. Diese
Fähigkeit wird normalerweise in der Familie entwickelt.
Sie ist grundsätzlich libidinöser Natur und
sorgt dafür, dass nicht egoistische Strebungen, sondern
auf den Anderen bezogenes und im günstigen
Falle gutwilliges Handeln im Vordergrund steht.
Diese Fähigkeit des Menschen, ein
„Objekt“ an die Stelle des Ich zu setzen, ist der Natur
der Sache nach flexibel, nicht festgelegt. In der
Masse kann es aber geschehen, dass diese blind einem
Objekt folgt, das morden, töten, zerstören will.
Die menschliche Geschichte ist voller Beispiele für
diese Art der malignen Regression. Man muss sich
nur die Bilder der fanatisierten Deutschen vor Hitler
und Goebbels anschauen, um zu verstehen, was
damit gemeint ist.
Derzeit scheint an die Stelle des Ich zahlloser prinzipiell
gutwilliger Muslime aufgrund einer tief sitzenden
Kränkung das „Objekt“, der Islam, getreten
zu sein. Zu untersuchen wäre allerdings, ob die im
Vergleich zur westlichen Erziehung eher kollektive
Ausrichtung der muslimischen Sozialisation bzw.
Ich- und Über-Ich-Bildung dies nicht nur begünstigt
hätte, sondern eine günstige Voraussetzung für
diese Psychodynamik bildet.
Waltet in den dschihadistischen Angriffen der von
Sigmund Freud in seinen letzten Jahren immer wieder
beschworene Todestrieb? Ist es seine Macht, die
unaufhaltsam wirksam wird, so dass sein Gegenspieler,
die libidinöse Besetzung des Lebens, keine
Chance hat? Oder ist nicht vielmehr die Verführung
der Massen zu fehlgeleiteter Hingabe an das Vaterland,
auch an religiöse Verpflichtungen, die eigentliche
Ursache für die verbreitete Kampfbereitschaft
gegen die narzisstische Kränkung des Kollektivs?
Von der Beantwortung dieser Frage hängt es ab,
welche politischen und diplomatischen Maßnahmen
gegen den Dschihadismus zu ergreifen sind:
militärische Härte, Diplomatie, Gewinnung der
„Herzen und des Verstandes“ der gutwilligen Muslime
(Tony Corn); harte und weiche Maßnahmen
also in der jeweils richtigen Mischung.
Die Chance, dass die Macht der libidinösen Besetzung
stärker sein wird als die der aggressiven,
besteht. Die Stimme der Vernunft ist leise, können
wir mit Sigmund Freud sagen, aber beharrlich und
unüberhörbar.