82 die def<strong>in</strong>itive Aufgabe <strong>der</strong> Petrochemiefabriken durch die amerikanische Firma Dow Chemical. Mögen diese Bereiche auch erst <strong>in</strong> Zukunft stillgelegt werden: Schon heute strahlt das Gebiet jene depressive Aura abgewickelter Groß<strong>in</strong>dustrie aus, wie sie auch die stillgelegten Betriebe <strong>in</strong> Bitterfeld o<strong>der</strong> Eisenhüttenstadt vermitteln: abgedeckte Industriehallen, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Bodenpfützen sich <strong>der</strong> Himmel spiegelt und Gras wächst, dazwischen das rostige Skelett <strong>der</strong> Calatrava-Brücke für den Canale Grande, die nicht passte und nun seit Jahren halbherzig nachgebessert wird, und <strong>in</strong> den Ru<strong>in</strong>en pseudo-optimistische Firmenbesitzer, die müde von e<strong>in</strong>er Hoffnung <strong>auf</strong> die künftige Ansiedlung mo<strong>der</strong>ner <strong>Die</strong>nstleister sprechen. Nur: Wer die gigantischen stillgelegten Flächen sieht, vermag sich e<strong>in</strong> künftiges Leben hier kaum vorzustellen. <strong>Die</strong> Stadt ist <strong>in</strong> dieser Lage hilflos. Wer hier lebt, beklagt e<strong>in</strong> völliges Fehlen von Politik. Zwar sehnen sich die politisch Verantwortlichen etwas unspezifisch nach „Young Urban Professionals“, etwa 30jährigen städtischen <strong>Die</strong>nstleistern, die die Stadt lieben, pflegen und f<strong>in</strong>anzieren könnten. Tatsächlich aber bietet Venedig für e<strong>in</strong>e solche Klientel ke<strong>in</strong>erlei Infrastruktur. Schlimmer noch, sagt Thomas Krämer-Badoni, die Stadt führe über die Notwendigkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierung nicht e<strong>in</strong>mal die notwendige Debatte. Als Beispiel für die Lethargie nennt er den gescheiterten Versuch im Vorfeld <strong>der</strong> Expo 2000, <strong>der</strong> Stadt mo<strong>der</strong>ne Impulse zu geben. Und er stellt fest, dass die damaligen Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>er e<strong>in</strong>er Verän<strong>der</strong>ung – Teile <strong>der</strong> Bevölkerung, l<strong>in</strong>ke Splittergruppen und die <strong>in</strong>ternationale Venedig-Lobby, etwa <strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> Unesco – seit ihrem Erfolg vom Erdboden verschwunden seien. So dämmern viele Bereiche Venedigs leblos vor sich h<strong>in</strong>. Weite Teile <strong>der</strong> Sistieri (Viertel) Dorso Duro, San Marco und Giudecca stehen leer, desgleichen e<strong>in</strong>ige etwas weiter außerhalb gelegene Inseln des Archipels, die früher selbstverständlich <strong>in</strong> die Stadt e<strong>in</strong>gebunden waren. Nur mit e<strong>in</strong>em privat gecharterten Boot ist heute etwa die Insel Sacca Séssola zu erreichen. 1870, als mit dem Ausbau des Handelshafens <strong>in</strong> Santa Marta große Mengen Sand und Bauschutt freiwurden, baute man die Insel zunächst als Treibstoffmittel- Depot aus, später legten die Venezianer hier Gärten und We<strong>in</strong>berge an. Als 1911 die Cholera ausbrach, errichtete die Kommune <strong>auf</strong> Teilen <strong>der</strong> Inseln e<strong>in</strong> Krankenhaus, <strong>in</strong> das ab 1914 auch Tuberkulose- Kranke e<strong>in</strong>geliefert wurden. E<strong>in</strong> Um- und Ausbau erfolgte <strong>in</strong> den dreißiger Jahren, e<strong>in</strong>e Kirche wurde errichtet. Mit se<strong>in</strong>er mo<strong>der</strong>nen Ausstattung und Betten für bis zu 440 Patienten, dem gemäßigten Klima und herrlichen mediterranen Parkanlagen stieg San Séssola zu e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> beliebtesten Kl<strong>in</strong>iken Europas <strong>auf</strong>. Das Ende kam 1980, als die Fundamente <strong>der</strong> Insel erste Schäden <strong>auf</strong>wiesen. Das Hospital musste schließen. Seit 1995 bef<strong>in</strong>det sich das Gelände unter <strong>der</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Unesco, die die Park- und Gebäudeanlagen notdürftig unterhält und versucht, die Insel vor Vandalismus zu schützen. Im Internet bietet die Città di Venezia die 17,5 Hektar große Insel an – sie hofft <strong>auf</strong> Investoren, die Sacca Séssola zu e<strong>in</strong>er Hotelanlage umbauen. Man darf gespannt se<strong>in</strong>. An<strong>der</strong>norts gab es bereits Versuche, nicht-touristisches Leben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt zu halten o<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> anzusiedeln – etwa <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Lagunenseite des Sistiero Giudecca. Auf dem Gelände <strong>der</strong> ehemaligen Uhrenfabrik Junghans s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den letzten Jahren neue Wohnungen entstanden. Das Projekt hat <strong>in</strong>ternational Furore gemacht – lange vor se<strong>in</strong>er Fertigstellung im Jahre 2002 konnte man die Entwürfe des italienischen Architekten C<strong>in</strong>o Zucchi <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachpresse bewun<strong>der</strong>n. Mo<strong>der</strong>n, hell und licht wirken die Gebäude mit ihren spielerischen Glaselementen, aber ihr steriler Charme reicht nicht im Ger<strong>in</strong>gsten an die historischen Bauten Venedigs heran. <strong>Die</strong> Gegend sche<strong>in</strong>t nach wie vor unbelebt, und ob diese Maßnahmen wirklich „echte“, italienische Venezianer an die Stadt b<strong>in</strong>den, darf bezweifelt werden – e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher Blick <strong>auf</strong> die Kl<strong>in</strong>gelschil<strong>der</strong> genügt, und man sieht, dass die Häuser, sofern sie überhaupt bezogen s<strong>in</strong>d, von vielen Auslän<strong>der</strong>n bewohnt werden. Es s<strong>in</strong>d Ferienwohnungen, Zweitwohnsitze, Spekulationsobjekte. Was aber passiert, wenn die Stadt gar nicht mehr von E<strong>in</strong>heimischen bevölkert wird? Wenn sie, immer noch atemberaubend schön, aber nur als re<strong>in</strong>e Kulissenlandschaft weiterbesteht? Stirbt dann auch <strong>der</strong> Tourismus – o<strong>der</strong> wird Venedig tatsächlich zum Themenpark mit Öffnungszeiten von 9 bis 21 Uhr? Wenn das nicht geschehen soll, muss die Stadt jetzt handeln, sonst bleiben ihr <strong>auf</strong> Dauer auch jene Besucher weg, die – an<strong>der</strong>s als die mit Lunchpaketen bepackten Tagestouristen – Geld <strong>in</strong> die Stadt br<strong>in</strong>gen. Krämer-Badoni sieht nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em qualitativ höheren, deutlich teureren Tourismus e<strong>in</strong>e Überlebenschance – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tourismus, <strong>der</strong> weltweite Aufmerksamkeit für die e<strong>in</strong>zigartigen Kunstschätze Venedigs garantiert und damit <strong>in</strong>ternationale Geldgeber zu <strong>der</strong>en Erhalt bewegt. Und <strong>der</strong> e<strong>in</strong> anspruchsvolles Programm bedient, das den venezianischen Händlern und <strong>Die</strong>nstleistern Arbeit gibt. Den Charme von Städtereisen prägt entscheidend die e<strong>in</strong>heimische Bevölkerung und mit ihr e<strong>in</strong> spezifisches urbanes Leben. Es ist das Flair, <strong>der</strong> Geruch des alltäglichen Lebens, <strong>der</strong> Touristen nach Istanbul lockt, nach Krakau, Lubljana, Lissabon, Barcelona. Und vielleicht ist <strong>in</strong> Venedig noch mehr als <strong>in</strong> an<strong>der</strong>en Städten Europas das geheimnisvolle Leben <strong>der</strong> Grund e<strong>in</strong>er beson<strong>der</strong>en Anziehungskraft. Ganze Literaturen s<strong>in</strong>d über die Stadt und ihre E<strong>in</strong>wohner verfasst worden – von Goethe, Dickens, Rilke, Henry James, Patricia Highsmith, Thomas Mann, um nur e<strong>in</strong>ige zu nennen. Nicht zu vergessen die Krim<strong>in</strong>alromane von Donna Leon, e<strong>in</strong>er seit 1981 <strong>in</strong> Venedig lebenden amerikanischen Schriftsteller<strong>in</strong>, die bezeichnen<strong>der</strong>weise nie, nie vom schrump-
fenden, son<strong>der</strong>n immer nur vom lebendigen Venedig berichtet. Kommissar Brunetti <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Geisterstadt – undenkbar. Abschied von Venedig am späten Nachmittag. <strong>Die</strong> feuchte Hitze steht noch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt, Moskitos haben die Reisende übel zugerichtet. Es ist spät, das Vaporetto quillt über, steuert <strong>auf</strong>reizend langsam die Anlegestellen an. <strong>Die</strong> Stimmung ist angespannt. Erst fehlen <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Piazzale Roma die Taxen, dann stauen sich die Fahrzeuge stadtauswärts <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Ponte de la Libertà, <strong>der</strong> Verb<strong>in</strong>dung zum Festland. Erst später wird sich die Reisende im Flugzeug erleichtert zurücklehnen, <strong>auf</strong> dem Weg zurück <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e lebendige Stadt. Venedig, Term<strong>in</strong>al Fus<strong>in</strong>a Blick vom Festland über die Lagune nach Venedig Fotos: Christoph Petras 83
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