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Neue Weltordnungen - Vom Kolonialismus bis zum Bic Mac.pdf

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internen Botschaft vom Januar 1956 unterstrich das US-Außenministerium die Notwendigkeit,<br />

»Deutschland organisch in die westliche Gemeinschaft einzubinden, um die Gefahr zu verringern, daß<br />

ein neu entstehender deutscher Nationalismus bereit ist, die Wiedervereinigung um den Preis der<br />

Neutralität zu erlangen, mit der Perspektive, eine kontrollierende Position zwischen Ost und West<br />

einnehmen zu können«. Das waren, wie Geoffrey Warner anhand von neuerdings freigegebenen<br />

Geheimdokumenten erläutert, »keineswegs die Ausgeburten einer überhitzten Phantasie«: Die Russen<br />

»hatten auf der Genfer Konferenz der Außenminister angedeutet, daß sie bereit sein könnten, in einem<br />

neutralen Deutschland freie Wahlen zuzulassen«. 1955 waren Geheimverhandlungen zwischen Westund<br />

Ostdeutschland geplant und möglicherweise schon im Gange. Noch bedeutsamer ist, daß Kennedy<br />

Chruschtschows Forderung, seinen radikalen Kürzungen im Militärhaushalt der Jahre 1961 <strong>bis</strong> 1963<br />

mit einer vergleichbaren Initiative zu entsprechen, ignorierte. Ebenso blieben Gorbatschows<br />

weitreichende Vorschläge <strong>zum</strong> Abbau der Spannungen unberücksichtigt, weil man sie als bedrohlich<br />

empfand. 58<br />

Die untergeordnete Rolle der Sicherheit für die westlichen Strategen des Kalten Kriegs ist nicht<br />

unbemerkt geblieben. In seinem Standardwerk über die Eindämmungspolitik stimmt John Lewis<br />

Gaddis der Einschätzung George Kennans vom Oktober 1947 zu - die von rationalen Politikern und<br />

Beobachtern, darunter auch Präsident Eisenhower, geteilt wurde -, daß wir »nicht von der<br />

militärischen <strong>Mac</strong>ht der Russen bedroht werden, sondern von ihrer politischen <strong>Mac</strong>ht«. Gaddis<br />

bemerkt: »Die Eindämmung ist in bemerkenswertem Ausmaß nicht so sehr eine Reaktion auf die<br />

russische Politik oder Ereignisse in anderen Teilen der Welt gewesen, sondern das Produkt von<br />

Kräften innerhalb der Vereinigten Staaten ... Überraschend ist das Primat, das wirtschaftlichen<br />

Erwägungen [vor allem staatlichen Wirtschaftsdirektiven] bei der Formung der Eindämmungspolitik<br />

eingeräumt wurde, und zwar <strong>bis</strong> hin <strong>zum</strong> Ausschluß anderer Erwägungen« (Hervorhebung von<br />

Gaddis). 59 Aber wie die meisten anderen Kommentatoren sieht Gaddis in diesem strategischen Muster<br />

lediglich eine Merkwürdigkeit, nicht jedoch ein politisches Handlungsprinzip, und so sagt er denn<br />

auch nichts darüber, inwieweit die Politik der »Abschreckung« und »Eindämmung« der politischen<br />

Weltlage überhaupt angemessen war. »Überraschend« ist allerdings, wie schwierig eine rationale<br />

Analyse im Hinblick auf die Außenpolitik der USA zu sein scheint, während sie in anderen<br />

Forschungsgebieten, auch bei der Erörterung der Politik uns feindlich gesonnener Staaten, Routine ist.<br />

Zudem betrachtet Gaddis nur die innenpolitische Komponente des Kalten Kriegs, nicht aber die bereits<br />

erwähnte Strategie, derzufolge »Amerika in wirtschaftlich kritischen Regionen im wesentlichen ein<br />

Militärprotektorat aufrechterhalten muß, damit seine lebenswichtigen Handels- und Finanzbeziehungen<br />

nicht durch politische Unruhen gefährdet werden«.<br />

Die politischen Strategien des Kalten Kriegs werden also plausibel, wenn wir »nationale Sicherheit«<br />

so umfassend interpretieren, daß diese bereits als gefährdet erscheint, sobald im amerikanischen<br />

Interessenbereich irgend etwas außer Kontrolle gerät, und sei es eine winzige Insel in der Karibik.<br />

Folglich mußte, um ein Beispiel zu geben, Grenada mit Gewalt in die Herde zurückgebracht werden,<br />

und die Reaganisten wollten, wie sie stolz verkündeten, daraus ein »Vorzeigeexemplar für den<br />

Kapitalismus« machen, was Großbanken und anderen Hilfsorganisationen denn auch gelang: Schon<br />

bald war die Insel »ein schnell wachsendes Paradies für Geldwäscher, Steuerflüchtlinge und<br />

Finanzbetrüger aller Art« (Wall Street Journal). 60 Wenn unsere Sicherheit durch jegliche<br />

Beschränkung unserer Kontrolle über Ressourcen und Märkte bedroht ist, sind Eindämmung und<br />

Abschreckung natürlich sinnvolle Strategien.<br />

Aus dieser Perspektive können wir auch verstehen, warum Gaddis in einem anderen einflußreichen<br />

Werk, das sich mit der Geschichte des Kalten Kriegs beschäftigt, die Invasion Rußlands durch einige<br />

Westmächte im Jahr 1918 als defensive Maßnahme rechtfertigt. Sie sei nämlich »die Reaktion auf eine<br />

tiefgreifende und potentiell weitreichende Intervention der neuen sowjetischen Regierung in die<br />

inneren Angelegenheiten nicht nur des Westens, sondern praktisch aller Staaten der Welt« gewesen, d.<br />

h. die »Kampfansage der Revolution - die kategorischer nicht hätte sein können - gegen das Überleben<br />

der kapitalistischen Ordnung«. Mithin war die Sicherheit der Vereinigten Staaten bereits 1917 »in<br />

Gefahr« gewesen und nicht erst 1950, und die Intervention durfte als Verteidigung gegen den Wandel<br />

der gesellschaftlichen Ordnung in Rußland und die Verkündung revolutionärer Absichten für<br />

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