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Neue Weltordnungen - Vom Kolonialismus bis zum Bic Mac.pdf

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Ökonom Michel Chossudovsky, eine Mischung aus Stalinismus und »freiem Markt«, bei dem viele<br />

totalitäre Strukturen erhalten blieben. 192<br />

Auch der hervorragende israelische Journalist Amnon Kapeliuk hat aus Rußland wenig Erfreuliches zu<br />

berichten. 87 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze, seit 1989 ist der Konsum<br />

von Lebensmitteln stark zurück-gegangen, weil aufgrund der Preiserhöhungen 80 Prozent des<br />

Familieneinkommens allein dafür aufgewendet werden müssen. Massengräber werden angelegt, weil<br />

Beerdigungen für viele unbezahlbar geworden sind; Tuberkulose, Diphtherie und andere längst<br />

verschwunden geglaubte Krankheiten breiten sich wieder aus. 193<br />

Die Ergebnisse der über zweijährigen Experimente mit Marktreformen werden von den Ökonomen J.<br />

A. Kregel (Italien) und Egon Matzner (Österreich) als »zutiefst enttäuschend« bezeichnet. Der Ansatz<br />

ignoriere nicht nur geschichtliche Lehren, sondern auch die zur Schaffung einer Marktwirtschaft<br />

nötigen ökonomischen Bedingungen. In Japan und den »Tigerstaaten« sei man anders vorgegangen,<br />

ebenso wie im Westeuropa der Nachkriegszeit. Der Marshall-Plan, merken sie an, beruhte auf »der<br />

Formulierung nationalwirtschaftlicher Ziele«, so wie auch »das erfolgreiche Operieren jeder<br />

kapitalistischen Firma auf strategischen Planungen innerhalb eines Marktsystems beruht«. 194<br />

Auch eine UNICEF-Studie setzte sich mit den Auswirkungen der Reformen auseinander. Zwar hielt<br />

sie diese für »unvermeidlich, wünschenswert und unerläßlich«, doch wären die »wirtschaftlichen,<br />

sozialen und politischen Kosten sehr viel größer gewesen als vorhergesehen«. Dazu zählt die Studie<br />

vor allem steigende Armut und sinkende Lebenserwartungen. »So ist z. B. die jährliche Zahl der<br />

Todesfälle in Rußland zwischen 1989 und 1993 schätzungsweise um mehr als eine halbe Million<br />

gestiegen; eine Zahl, die verdeutlicht, wie tiefgreifend die augenblickliche Krise ist.« Das klingt wie<br />

eine düstere Fußnote zu einer Bemerkung von Herman Daly, dem früheren Chefökonomen der<br />

Weltbank: »Die Vorliebe unserer Disziplin für logisch schöne Resultate statt für eine auf Tatsachen<br />

beruhende Politik hat derart fanatische Proportionen erreicht, daß wir Wirtschaftswissenschaftler eine<br />

Gefahr für die Erde und ihre Bewohner geworden sind.« Nur die dem Westen seit jeher enger<br />

verbundene Tschechische Republik »dürfte langsam zu normalen Verhältnissen zurückkehren«, heißt<br />

es im UNICEF-Bericht weiter.<br />

Vor den Reformen hatte Osteuropa funktionale, wenngleich stagnierende Wirtschaften und »eine<br />

erheblich niedrigere Einkommensungleichheit als die Mehrheit der entwickelten Industrieländer ...<br />

selbst wenn man die Privilegien der Nomenklatura berücksichtigt«, die heute ebenfalls zu den am<br />

besten verdienenenden Sektoren der neukapitalistischen Gesellschaften zählt. Ansonsten überall das<br />

gleiche Bild: stark wachsende Armut, sinkende Einkommen (besonders markant in Bulgarien, Polen,<br />

Rumänien, Rußland und der Ukraine, wo die Durchschnittseinkommen um 60 <strong>bis</strong> 70 Prozent unter den<br />

in der Zeit vor den Reformen üblichen liegen), wachsende Kriminalität, vor allem unter<br />

Jugendlichen. 195<br />

In einem Bericht für die Europäische Kommission kommt das Europäische Institut für regionale und<br />

lokale Entwicklung zu dem Schluß, daß in den vier vom Institut untersuchten Ländern Osteuropas die<br />

Menschen »Angst vor der Zukunft haben«. 40 Prozent aller Ungarn fänden die gegenwärtige<br />

Regierung »schlimmer« als die vorhergegangene. Eigentlich müsse, meint der Institutsleiter, die<br />

Reaktion auf die »Schocktherapie« für Experten wie Sachs eine Überraschung sein, berichtet die<br />

Chicago Tribune. Andere sind nicht überrascht, wie etwa der Nobelpreisträger Jan Tinbergen, der<br />

einen sozialdemokratischen Ansatz befürwortet. Der niederländische Ökonom Jan Berkouwer, der mit<br />

Tinbergen zusammenarbeitet, hält Sachs' Überzeugung, in Polen gebe es keine Armut und den<br />

Menschen gehe es besser, für falsch. »Mehr als 90 Prozent haben jetzt ein geringeres Einkommen, und<br />

ein paar Prozent haben mehr - möglicherweise sehr viel mehr.« Sachs meinte dazu in einem<br />

Telefoninterview: »Ich weiß wirklich nicht, was mit den Polen los ist. Sie sind nicht reich, aber sie<br />

leiden auch nicht.« Das sieht man in Polen offenbar ganz anders. 196<br />

Ebenso hält der Harvard-Ökonom Richard Parker die »Schocktherapie« für verfehlt. Auch nach den<br />

Reformen »sorgen die großen Staatsbetriebe, die von den Advokaten der Marktwirtschaft als<br />

sozialistische Dinosaurier verspottet werden, noch für 60 Prozent der polnischen Exporte.« Allerdings<br />

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