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Neue Weltordnungen - Vom Kolonialismus bis zum Bic Mac.pdf

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In den USA war man sehr erstaunt über die Reaktion der Polen auf ihr »Wirtschaftswunder«, denn bei<br />

den Wahlen vom September 1993 sagten Umfragen einen hohen Sieg der »neu formierten ehemaligen<br />

Kommunisten voraus«. Offensichtlich konnte das Wunder der polnischen Bevölkerung trotz<br />

importierter Luxuswagen und schicker Boutiquen in den neu gestylten Einkaufsstraßen von Warschau<br />

nicht so einfach verkauft werden. Eine gebildete junge Frau in Lodz, die »theoretisch ... zu den<br />

Gewinnern der ökonomischen Rationalisierung gehören sollte ... ist zornentflammt: ›Sicher sind die<br />

Läden voll mit Zeug, aber wir können es uns nicht leisten«, lautet ihr Kommentar. ›Schauen Sie sich<br />

die Leute an, die sind am Boden zerstört, man kann es ihnen vom Gesicht ablesen.‹« 188<br />

Im übrigen landete die Reformpartei, die den Polen die Schocktherapie verordnet hatte, bei den<br />

Wahlen mit zehn Prozent der Stimmen auf dem dritten Platz, hinter zwei eher linkssozialdemokratisch<br />

orientierten Parteien. Die Wahlbeteiligung lag bei unter 50 Prozent, für das Wall Street Journal ein<br />

»weiterer Beweis des Desinteresses« an einem in den Augen der Bevölkerungsmehrheit fehlgeschlagenen<br />

politischen System. Dennoch werden, versicherte die Zeitung ihrer Leserschaft, die<br />

Reformen fortgesetzt, trotz 57 Prozent Opposition dagegen. »Westliche Investoren und internationale<br />

Bankiers machten gute Miene <strong>zum</strong> bösen Spiel und meinten, eine Rückkehr zur Kommandowirtschaft<br />

sei ausgeschlossen«, hieß es in der New York Times. Ausgeschlossen sind natürlich auch vernünftigere<br />

Alternativen jenseits der absurden Wahl zwischen Kommandowirtschaft und neoliberalen Dogmen. 189<br />

Auch die russische Bevölkerung zeigt wenig Begeisterung für die rapiden kapitalistischen Reformen,<br />

wie die abnehmende Popularität von Boris Jelzin zeigt, der 1991 noch von 60 Prozent, Anfang 1993<br />

aber nur noch von 36 Prozent unterstützt wurde. Im August 1993 glaubten nur noch 18 Prozent aller<br />

Russen an eine Verbesserung des Lebens unter kapitalistischen Bedingungen. In allen ehemals<br />

sozialistischen Staaten gab es »ein Wiederaufleben sozialistischer Werte, wobei 70 Prozent der<br />

Bevölkerung meinten, der Staat solle für sichere Arbeitsplätze sowie für ein nationales Gesundheits-,<br />

Wohnungs- und Bildungswesen sorgen« (Economist). 190<br />

Wer nicht in den Berichten über die neuen Wirtschaftswunderländer auftaucht, sind die jungen Frauen,<br />

die von Verbrecherorganisationen in den Westen verschleppt werden, um dort der Sexindustrie zu<br />

dienen, und unerwähnt bleiben auch jene Westeuropäer, die von der Arbeitsplatzverlagerung nach<br />

Osten ebensowenig begeistert sind wie von dem verstärkten Drogenfluß in die andere Richtung. Der<br />

Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs, der Polens Experiment dirigierte, um dann Rußland auf Vordermann<br />

zu bringen, verdiente sich seine Sporen in Bolivien, wo er für ein makroökonomisches<br />

»Wirtschaftswunder« sorgte, das in gesellschaftlicher Hinsicht eine Katastrophe war. Die statistischen<br />

Erfolge, die im Westen so beifällig aufgenommen wurden, beruhten in hohem Maß auf der starken<br />

Zunahme illegalen Drogenanbaus, der mittlerweile für den Großteil der Exportgewinne sorgen dürfte,<br />

wie Spezialisten meinen. Es ist ja nur verständlich, daß Bauern, die von der Regierungspolitik <strong>zum</strong><br />

Anbau von exportfähigen Produkten gezwungen werden, auch am von internationalen Banken und<br />

Chemiekonzernen betriebenen Drogenhandel verdienen möchten.<br />

Vergleichbare Prozesse spielen sich jetzt im ehemaligen Sowjetblock ab, vor allem in Polen, wo zur<br />

Zeit Drogen höchster Qualität produziert werden; u. a. stammten 20 Prozent der 1991 konfiszierten<br />

Amphetamine von dort. Mittlerweile heuern die kolumbianischen Kartelle polnische Kuriere für den<br />

Kokainschmuggel in den Westen an. Auch die ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien dürften<br />

demnächst zu den Großproduzenten von Drogen gehören. 191<br />

In Rußland haben die Reformen das Land näher an die Dritte Welt herangerückt. Sie sollten die<br />

Wirtschaft »stabilisieren«, haben jedoch die Warenpreise binnen eines Jahres verhundertfacht, die<br />

Realeinkommen um über 80 Prozent gesenkt und Milliarden Rubel an Sparguthaben vernichtet.<br />

Offiziellen Angaben zufolge sank die Industrieproduktion um jährlich 27 Prozent, andere Schätzungen<br />

sprechen von <strong>bis</strong> zu 50 Prozent, bei Konsumgütern beträgt der Rückgang zwischen 20 und 40 Prozent.<br />

Die Privatisierungspläne könnten die Hälfte der Fabriken in die Insolvenz treiben, während der Rest in<br />

ausländische Hände übergeht. Die staatlichen Gesundheits-, Wohlfahrts- und Bildungssysteme stehen<br />

vor dem Zusammenbruch. Dafür blühen Kapitalflucht, Geldwäsche und der durch »die Ausplünderung<br />

von Rußlands Rohstoffen finanzierte« Markt für Luxusimporte. Das ganze System ist, meint der<br />

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