Neue Weltordnungen - Vom Kolonialismus bis zum Bic Mac.pdf
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konfrontiert sind, wenn wir »die politische Struktur eines Landes zu reparieren suchen, dem die<br />
Grundlagen einer modernen politischen Kultur fehlen«. Und Elaine Sciolino von der New York Times<br />
erinnert daran, daß die Marines »für Ordnung sorgten, Steuern einzogen, Auseinandersetzungen<br />
schlichteten, Lebensmittel und Medizin verteilten und sogar Pressezensur betrieben und politische<br />
Gegner vor Militärgerichte stellten«. Dem Harvard-Historiker David Landes zufolge führte die<br />
wohlwollende Okkupation »zur dringend benötigten Stabilität, damit das politische System arbeiten<br />
und der Außenhandel erleichtert werden konnte«. Auch Professor Hewson Ryan von der Fletcher<br />
School of Law and Diplomacy ist voll des Lobes für das, was die USA in »zwei Jahrhunderten<br />
gutgemeinten Engagements« in Haiti erreicht haben, seit sie 1791 Frankreichs Versuch, den<br />
Sklavenaufstand gewaltsam niederzuschlagen, unterstützten. »Nur wenige Nationen haben über einen<br />
so langen Zeitraum so viel an gutgemeinter Beratung und Hilfe bekommen«, schreibt er. Haitis<br />
gegenwärtiger Zustand muß also einigermaßen rätselhaft erscheinen. Besonders beeindruckt ist Ryan<br />
von Wilsons »freundlichem Beharren« auf der Beseitigung »unfortschrittlicher« Vorkehrungen der<br />
Verfassung, wie etwa dem Verbot des Landerwerbs durch Ausländer. Mit dem »freundlichen<br />
Beharren« bezieht er sich auf die gewaltsame Auflösung der Nationalversammlung. 63<br />
Die Haitianer haben etwas andere Erinnerungen an diese Zeiten amerikanischer Fürsorge. So meint<br />
der Anthropologe Michel-Rolph Trouillot: »Die meisten Beobachter sind sich darin einig, daß die<br />
Errungenschaften der Okkupation geringfügiger Art waren; Uneinigkeit besteht nur in der Frage, wie<br />
groß der angerichtete Schaden war.« Jedenfalls beschleunigte die Besatzung die wirtschaftlichen,<br />
militärischen und politischen Zentralisierungsprozesse, die ökonomische Abhängigkeit und die<br />
scharfen Klassenteilungen, die Ausbeutung der Bauernschaft, die innerethischen Konflikte, die durch<br />
den Rassismus der Besatzer noch verschärft wurden, und, was wohl das Schlimmste war, die<br />
Errichtung einer »Armee, deren Aufgabe es war, das Volk zu bekämpfen«. 64 Aber, tröstet Landes,<br />
»selbst eine gutgemeinte Okkupation ruft... bei den Nutznießern Widerstand hervor«.<br />
Nicht nur die gewaltsame Auflösung der Nationalversammlung ist aus der Geschichte verschwunden,<br />
sondern auch die praktische Wiedereinführung der Sklaverei, die von den Marines verübten Massaker,<br />
die Bildung einer staatsterroristischen Armee (der Nationalgarde), die seither die Bevölkerung eisern<br />
im Griff hat, sowie die Übernahme des Landes durch US-Konzerne. In der benachbarten<br />
Dominikanischen Republik spielte sich das alles ähnlich ab, auch wenn Wilsons Armeen dort nicht<br />
ganz so schlimm wüteten.<br />
Und da dies alles vergessen ist, gilt Wilson als großer moralischer Lehrmeister und Apostel von<br />
Selbstbestimmung und Freiheit. Zu seinem hochfliegenden Idealismus können wir jetzt zurückkehren.<br />
Die Bolschewisten dagegen haben sich, indem sie die Konstituierende Versammlung gewaltsam<br />
auflösten, gegen unsere hehrsten Ideale vergangen.<br />
Der Kalte Krieg begann mit Lügen und Täuschungsmanövern, und das sollte sich auch im weiteren<br />
Verlauf nicht ändern.<br />
Der Verlauf des Kalten Kriegs<br />
Eine dritte Frage, um das Wesen des Kalten Kriegs zu verstehen, lautet: Welche Ereignisse<br />
charakterisieren ihn?<br />
Hier müssen wir zwei Phasen unterscheiden. Die erste reicht von der Russischen Revolution <strong>bis</strong> <strong>zum</strong><br />
Zweiten Weltkrieg, die zweite, mit der Erneuerung des Konflikts, vom Ende des Zweiten Weltkriegs<br />
<strong>bis</strong> <strong>zum</strong> endgültigen Zusammenbruch der Sowjetunion. Betrachten wir zuerst die dortige Entwicklung.<br />
Die erste Phase war durch die rasche Zerschlagung der beginnenden sozialistischen Tendenzen, die<br />
Institutionalisierung eines totalitären Staats sowie, vor allem unter Stalin, außergewöhnliche<br />
Greueltaten gekennzeichnet. Außenpolitisch war die Sowjetunion kein Hauptakteur; allerdings<br />
bemühten sich ihre Führer nach Kräften darum, sozialistische und andere nicht-orthodoxe linke<br />
Bewegungen zu untergraben, wofür die Rolle der Stalinisten im Spanischen Bürgerkrieg ein<br />
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