Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin

entschieden auf Materialitäten verwiesen - im Unterschied zum
eher „substanzlosen“ Traditionsbegriff in den
gedächtniskulturwissenschaftlichen Schriften von Aleida und
Jan Assmann.
Ein konkretes Beispiel praktizierter Memetik ist das aus
altsprachlichem Unterricht noch vertraute altgriechische
Versmaß, also Muster des Hexameters. Wie konnte sich Homers
Gesang über den Untergang Trojas, die Ilias, die
wahrscheinlich in mykenischer Zeit schon gesungen wurde, sich
über die schriftlose Zeit, also eine Epoche von ca. 400
Jahren, als Gedächtnis retten (falls nicht diese Lücke selbst
ein kalendarischer Rechenfehler ist und schlicht nicht
existierte, analog zu dem von H. Illig aufgewiesenenen Befund
für die Epoche Karls d. Gr.) „Die Geschichten, die wir als
`Mythos´ kennen, sind in mykenischer Zeit entstanden und durch
die `Lücke´ hindurchgewandert“ - eine List
der Meme.
Die Linear B-Schrift war keine Herausforderung an die
hexametrische Dichtung, da Linear B für Verwaltungs-, nicht
aber für poetische Zwecke praktiziert wurde. Als
Hexameterdichtung war sie selbst ein formalisiertes, also
halbwegs stabiles Speicher- und Übertragungsmedium, im
Unterschied zur schlichten oralen Tradition von Geschichten -
eine Kulturtechnik, ein „Meßgefäß“ (Latacz). Dichtung hat hier
gegenüber den Geschichten eine kulturtechnische Funktion. „In
einer schriftlichkeitsbestimmten Kultur sind solche
Zeitabstände relativ bedeutungslos, weil Bibliotheken und
Archive auch noch nach Jahrhunderten im Lesenden
Gleichzeitigkeit erzeugen können“ 70 ; Griechenland um 1000 v.
Chr. aber verfügt über keine solchen externen Speicher als
Relais der Tradition. Formelhafte Wendungen komprimieren die
schiere zu memorierende Textmenge und vermögen, im Medium des
Hexameter, quasi algorithmisch immer wieder spontan Wendungen
zu erzeugen - generative „Grammatik“ in
einer Zeit ohne grammé, ohne Schrift.
Ein Gedächtnismedium, zum Mem verkürzt Meme sind keine Wesen,
sondern Techniken, sprachgenerierende Strukturen. „Es gab ein
Medium, in dem die Troia-Geschichte weitergetragen werden
konnte: die hexametrische griechische Sängerdichtung, und es
gab eine soziale Schicht, die einem solchen Medium durch die
Jahrhunderte hindurch eine Heimstatt bieten konnte und wollte“
. Konkret und materialiter aber mag in II. Gesang
von Homers Ilias (Verse 494-759) der sogenannte
„Schiffskatalog gelangt sein, von der Art eines Auszugs aus
einem von einer Verwaltungsbehörde entworfenen geographischen
Kataster. 71 Es handelt sich hier offensichtlich weniger um eine
Erzählform denn eine Liste - in der Tradition der
70
Joachim Latacz, Troia und Homer. Der Weg zur Lösung eines alten Rätsels, München / Berlin (Keohler &
Amelang) 2001, 256
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