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Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin

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der königlichen Mandate, die lediglich einen Befehl erteilen,<br />

nicht zu den Urkunden. 192 Es gibt aber frühmittelalterliche<br />

Beurkundung, deren Wert im Akt der Übertragung selbst liegt:<br />

Die alte Auffassung, daß Recht nur durch rechtssymbolische Handlung geschaffen werden kann, nicht durch<br />

„Schrift“, setzt sich, der spätgermanischen Kultursituation entsprechend, wieder durch. Der Carta sowohl wie der<br />

Notitia wird daher ein rechtssysmbolischer Wert unterstellt: nicht mehr die Schrift, sondern die traditio cartae,<br />

die rechtssysmbolischeHandlung der Überganbe des Pergaments, erscheint als der maßgebliche Akt. Damit wird<br />

der geschriebene Inhalt immer unwichtiger. 193<br />

Tradition also analog zum speech act, der die Funktion der<br />

Unterschrift ersetzt; Übertragung setzt hier Recht.<br />

Überreste gelten als unabsichtliche, unwillkürliche<br />

Überlieferung, etwa Sachüberreste (Realien): bis hin zu<br />

körperlichen Überresten, dem Skelett. Dem gegenüber steht der<br />

„abstrakte Überrest“ (Ahasver von Brandt), etwa Institutionen,<br />

Sprache, „Zustände“ (von Aufseß, System der<br />

Altertumswissenschaft) und schriftliche Überreste<br />

(pragmatisches Schriftgut). Überreste auch in der Psyche:<br />

Das archäologische Modell ist für das psychoanalytische Denken prägend gewesen . Es dient der<br />

Beschreibung verschiedener Formen von Destruktion, und zwar so, daß der verbleibende Überrest stetes als<br />

Ausgangspunkt dient. Daher ist das evozierte totale Objekt das Bauwerk, das Monument, das Gebäude, oder die<br />

Statue, die Töpferware, das heißt: ein vor allem räumliches Gebilde. 194<br />

Überrest ist das aus der Vergangenheit noch unmittelbar<br />

Vorhandene; Quelle aber das, was zum Zweck der Erinnerung<br />

überliefert ist. Das Denkmal bildet demgegenüber eine<br />

Mischform wie der bewußt auch schon an die Leser der Nachwelt<br />

adressierte Brief - im Unterschied zu jenen Briefen, deren<br />

Autoren versterben, wenn er selbst noch auf dem postalischen<br />

Weg an den Adressaten ist (ungewolltes Denkmal). Kurz vor dem<br />

Aufbruch zu jenem Kreuzzug, den er nicht überleben sollte, gab<br />

Kaiser Heinrich VI. um 1200 aus dem tiefsten Süden mehrere<br />

Diplome nach Deutschland auf, „die als sein Vermächtnis in der<br />

Heimat ankamen“ 195 . So ist jede Schrift schon testamentarisch 196 ,<br />

und im postalischen Verzug (différance) liegt ihr Vollzug.<br />

Eine allegorische Kernszene der Tradition, insofern sie als<br />

postalisches System der Übertragung begriffen wird, ist die<br />

Ankunft eines lange verzögerten Briefs aus der Vergangenheit<br />

in der Gegenwart. Der nachträglichen Zustellung von Post aus<br />

einem vorzeitig abgestürzten Flugzeug im Himalaya „strikes us<br />

now with the full disruptive force of an event“ , und der Film, in dem dieses Motiv kürzlich<br />

192<br />

Harry Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien, dritte Auflage <strong>Berlin</strong> (de Gruyter)<br />

1958, 3<br />

193<br />

Ahasver von Brandt, Werkzeug des Historikers, 9., erg. Aufl. Stuttgart u. a. (Kohlhammer) 1980 [*1958], 85<br />

194<br />

Guy Rosolato, Das Fragment und die Ziele der Psychoanalyse, in: Lucien Dällenbach / Christiaan L. Jart<br />

Nibbrig (Hg.), Fragment und Totalität, Frankfurt/MN. 1984, 77ff (78)<br />

195<br />

Rudolf Schieffer, Urkunden, die über die Alpen getragen wurden, in: Olaf B. Rader (Hg.), Turbata per aequora<br />

mundi. Dankesgabe an Eckhard Müllers-Mertens, Hannover (Hahn) 2001, 37-47 (47)<br />

196<br />

Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 19xxx, xxx<br />

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