Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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wieder auftauchte, heißt Die wunderbare Welt der Amelie (F<br />
2001). Die Protagonistin Amelie läßt sich hier aber nur von<br />
der Post-Geschichte (um nicht zu sagen: post-histoire) der<br />
nachträgliche Zustellung des Inhalts des Postsacks der<br />
abgestürzten Maschine inspirieren, um einer unglücklichen<br />
Frau, die unentwegt die Briefe ihres in Abwesenheit lange<br />
verstorbenen Mannes liest, aus kopierten Briefschnipseln einen<br />
fiktiven Brief zustellen zu lassen, unter der Fiktion einer<br />
solchen nachträglichen Lieferung. Genau das ist das<br />
abendländische Verständnis von kultureller Tradition: die<br />
Vorstellung einer Zustellung, eines Geschicks von etwas, das<br />
in Wirklichkeit nur zerstreute Fragmente ist - im Namen der<br />
verzögerten Kontinuität, hinter der sich vielmehr ein<br />
diskursiver Kurzschluß verbirgt.<br />
So tut sich eine Differenz zwischen räumlicher, synchroner<br />
Kommunikation und zeitlicher Transmission respektive Tradition<br />
auf. Urkunden und Akten etwa<br />
erzählen nicht zum Zweck historischer Unterrichtung der Mitwelt oder Nachwelt, sondern zur Begründung des <br />
aus der Gegenart und für die Gegenwart oder für die „Ewigkeit“ vollzogenen Rechts und Verwaltungsaktes.<br />
Die stehende Redewendungin der „Arenga“ mittelalterliche rUrkunden, daß das Gedächtnis der Menschen<br />
wankelhaft und daher die schriftliche Dokumentation erwünscht oder notwendig sei, zielt nicht auf „historische“,<br />
sondern auf rechtliche Unterrichtung. <br />
Gerade in der Unabsichtlichkeit eines Überrestes aber liegt<br />
eine Quelle der Information, insofern „für den Historiker sehr<br />
häufig gar nicht der ursächliche Zweck der Quelle, sondern ein<br />
damit verbundene Nebenumstand Aussagewert besitzt“ - Information im Sinne der Nachrichtentheorie. So<br />
etwa ein Eintrag des Rechnungsführers der Bischofs Wolfger von<br />
Passau, vom 12. November 1203: „Walthero cantori de Vogelweide<br />
pro pellicio .v. solidos“; aus dem Klartext, also der nichtredundanten<br />
Historiographie, erwächst hier die Information.<br />
„Das hiermit überlieferte Lebenszeugnis des Vogelweiders ist<br />
unwillkürliches, daher objektives Zeugnis“ . Unter Überresten haben wir also dasjenige Material zu<br />
verstehen, „das von den Geschehnissen unmittelbar - also ohne<br />
das Medium eines zum Zweck historischer Kenntnis gerichteten<br />
Vermittlers - übriggeblieben ist“ . Hier<br />
taucht der Medienbegriff gleich zwiefach auf, und die auch von<br />
Umberto Ecos Semiotik bemerkte Differenz zwischen Signal und<br />
Zeichen (Sinn) kommt ins Spiel. In der Sprache Shannons heißt<br />
dies: Wo keine Kodierung, kein Kanal bereitgestellt ist, wird<br />
die Hardware selbst das Medium ihrer Übermittlung.<br />
Die Trennung von Überrest und Tradition ist arbiträr und<br />
oszilliert relativ wie die zwischen Rauschen und Botschaft:<br />
„so etwa, wenn ein Brief mehr oder minder bewußt, schon im<br />
Gedanken an eine spätere Veröfflentlichung als<br />
Nachrichtenquelle für die Nachwelt geschfrieben worden ist“,<br />
oder die Zeitung , in einem funktionaltraditionalen<br />
Zwischenraum also. Der Zug zur Tradition liegt<br />
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