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Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin

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Die Form des Kodex weist als Datenträger entscheidende Vorteile gegenüber der älteren Buchrolle auf, da seine<br />

Benutzer gezielt einzelne Informationsblöcke aus dem Gesamttext abrufen können, ohne ihn immer wieder vom<br />

Anfang her lesen bzw. "aufrollen" zu müssen. Das blätterbare Buch eröffnet die Möglichkeit des<br />

Sei/teneinstiegs, es arbeitet als Random Access Memory, und genau darin liegt auch sein Vorteil bei der<br />

Implementierung von Großtexten in Aufführungssyteme. Neben der Übersetzbarkeit in Sprechsprache und<br />

Interaktion ist es die Möglichkeit des beliebigen Seiteneinstiegs, die das neue Medium in die alten Orte und<br />

Institutionen einpaßt. 76<br />

Medienarchäologie erklärt sich für die Analyse solcher<br />

kulturtechnischen Form zuständig.<br />

Curtius benennt konkret als kulturelle Transmissionstechniken<br />

Grammatik, Rhetorik, die freien Künste und Schulen. Doch<br />

unentschieden schwankt Curtius zwischen dem hermeneutischen<br />

und dem medienwissenschaftlichen Blick auf die Literatur des<br />

Mittelalters. Das Symbol des Humanisten ist seine<br />

Bücherwerkstatt; "was bleibt aber übrig, wenn Hieronymus sein<br />

Gehäuse verläßt" - der reine<br />

Speicher, nicht einmal mehr Gedächtnis.<br />

Die Wahrscheinlichkeit der Tradition ist eine Funktion ihrer<br />

Medien, die auch den Modus bestimmen: ob Daten als<br />

Reproduktion oder als sie selbst übertragen werden. Curtius<br />

sagt es als Präzision des Exempels Platon, daß in der<br />

Literatur alle Vergangenheit als Gegenwart aufgehoben ist. Es<br />

geht um die Differenz von medialer Fortsetzung und materieller<br />

Unübersetzbarkeit. „Homer wird uns durch eine neue Übersetzung<br />

neu vergegenwärtigt“ 77 - quasi als generativer Buchstabenkalkül.<br />

Ich kann den Homer und den Platon zu jeder Stunde vornehmen, ich „habe“ ihn dann und habe ihn ganz. Er<br />

existiert in unzähligen Exemplaren. Der Parthenon und die Peterskirche sind nur einmal da, ich kann sie mir<br />

durch Photographien nur partiell und schattenhaft anschaulich machen. Aber die Photographien geben mir keinen<br />

Marmor, ich kann sie nicht abtasten und nicht darin spazierengehen, wie ich es in der Odyssee oder der Divina<br />

Commedia kann. Im Buch ist die Dichtung real gegenwärtig. <br />

Meme bedürfen ihrerseits ganz entschieden der medialen Träger,<br />

des materiellen support. Mediales Apriori dieses<br />

kulturtechnischen Paradigmas ist der Buchdruck. Dessen<br />

technische Medialität liegt in der Standardisierung nicht erst<br />

auf der Benutzeroberfläche, sondern schon in der Materialität<br />

des Verfahrens, dem wiederholbaren Abguß der Letter aus der<br />

Matrize mit dem Handgießgerät. Buchdruck eröffnet die<br />

Differenz zwischen medialer Fortsetzung von Information und<br />

materieller Unübersetzbarkeit der ehemaligen<br />

Informationsträger.<br />

76<br />

Haiko Wandhoff, Der epische Blick: eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur, <strong>Berlin</strong><br />

(Schmidt) 1996, 326f<br />

77<br />

Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 24. Dazu Elisabeth Lenk,<br />

Achronie. Über literarische Zeit im Zeitalter der Medien, in: Claus Pias (Hg.), Neue Vorträge zur Medienkultur,<br />

Weimar (VDG) 2000, 285-299 (293f)<br />

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