Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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elektronischen Post. Demgegenüber aber ist die<br />
Wiederentdeckung der "Kommunikation unter Anwesenden" im<br />
Mittelalter, die face-to-face-Kommunikation, nichts als ein<br />
nostalgischer, medienkulturkritischer Mythos im Zeitalter der<br />
Interfaces. Eine prosopopoietische Illusion wie der Blick der<br />
Nachrichtensprecher in die Kamera, die dort nicht unsere Auge,<br />
nicht unser Gesicht, sondern nichts als den Spiegel ihres<br />
eigenen Antlitzes - oder den Teleprompter - erblicken.<br />
Tatsächlich bedarf Tradition im medienarchäologischen Sinne<br />
einer ganzen Skala von Interfaces, die nach DIN 44300 den<br />
gedachten oder tatsächlichen Übergang an der Grenze zwischen<br />
zwei gleichartigen Funktionseinheiten mit den vereinbarten<br />
Regeln für die Übergaben von Daten oder Signalen bilden:<br />
Es handelt sich im weitesten Sinne um Übergangsstellen, an denen zwei verschiedene Systeme kooperieren,<br />
Daten, Texte, Bilder, Sprache, Nachrichten oder Signale austauschen. In diesem Sinne dienen Schnittstellen<br />
der Kopplung beliebiger Systeme mit durchgängiger Möglichkeit der Übertragung, Weitergabe oder sonstigen<br />
Kooperation unterschiedlicher Systeme, wobei der Begriff sowohl auf Hardware als auch auf Software<br />
angewandt wird. Prinzipiell sind dabei technische Einrichtungen anzupassen . Im übertragenen Sinne gibt es<br />
auch Sch. zwischen dem Menschen und Datenverarbeitungssystemen (Benutzerschnittstellen) und zwischen<br />
unterschiedlichen Organisationen. <br />
Nun kann eine Schnittstelle, je nach medienarchäologischer<br />
oder hermeneutischer Perspektive, als Bruchstelle oder als<br />
Horizontverschmelzung beschrieben werden. Nicht zufällig steht<br />
der Begriff der Tradition im Zentrum von Gadamers Hauptwerk<br />
Wahrheit und Methode 248 - was den Begriff zu einem<br />
geschichtspolitischen macht. Statt der von Gadamer erträumten<br />
"Horizontverschmelzung" zwischen Absender und Adressat achtet<br />
Medienarchäologie auf die Bruchstellen der Überlieferung. Und<br />
die gelingende Horizontverschmelzung wird erst dann erreicht,<br />
wenn aus Sprache Programmiersprache geworden ist - was<br />
Alltagssprache nie zu leisten vermag: "Jedes Gespräch setzt<br />
eine gemeinsame Sprache voraus, oder besser: es bildet eine<br />
gemeinsame Sprache heraus" . Allerdings sei gegenüber der<br />
"wirklichen hermeneutischen Erfahrung, die den Sinn des Textes<br />
versteht", die "Rekonstruktion dessen, was der Verfasser<br />
tatsächlich im Sinne hatte, eine reduzierte Aufgabe" :<br />
Es ist die Verführung des Historismus, in solcher Reduktion die Tugend der Wissenschaftlichkeit zu sehen und<br />
im Verstehen eine Art von Rekonstruktion zu erblicken, die die Entstehung des Textes gleichsam wiederholt. Er<br />
folgt damit dem uns aus der Naturerkenntnis bekannte Erkenntnisideal, wonach wie einen Vorgang erst dann<br />
verstehen, wenn wir ihn künstlich herbeiführen können <br />
- oder wiederholen (das Reversibilitätsparadigma des<br />
Experiments, die Gedächtnistechnik von Aufzeichnungsmedien).<br />
Demgegenüber schreibt Hermeneutik ein verganenes Leben gerade<br />
nicht als lineare Biographie. 249 Es bleibt ein unkalkulierbarer<br />
Rest, ein Rauschen der Kanäle: Auch Gadamer betont, "daß ein<br />
jeder Historiker und Philologe mit der grundsätzlichen<br />
248<br />
Jürgen Kaube, Hermeneutische Aufklärung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 66 v. 19. März 2002, 53<br />
249<br />
Dazu die Dissertation von Jan Hein Hoogstad, Time Tracks, xxx, Einleitung<br />
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