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Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin

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Die Selbstermächtigung der Historiker<br />

Gadamer kommt auch auf jenen Mechanismus zu sprechen, der die<br />

alteuropäische Lese- und Schreibkultur von der Algorithmik des<br />

Computers trennt - wo "Texte" namens Programme tatsächlich,<br />

das tun, wofür sie stehen. Hier wird als Kommando der<br />

Verstehensbegriff plötzlich sehr unhermeneutisch:<br />

Nehmen wir das Beispiel des Verstehens eines Befehls. Einen Befehl gibt es nur dort, wo einer da ist, der ihn<br />

befolgen soll. Das Verstehen gehört hier also in ein Verhältnis von Personen, von denen die eine zu befehlen hat.<br />

Den Befehl verstehen heißt, ihn der konkreten Situation zu applizieren, in die er trifft. Zwar läßt man einen<br />

Befehl wiederholen, zur Kontrolle dessen, daß er richtig verstanden ist , aber das ändert nichts<br />

daran, daß sein wahrer Sinn sich erst aus der Konkretion seiner "sinngemäßen" Ausführung bestimmt. <br />

Sinngemäß heißt hier - ganz im Sinne des Deutschen Wörterbuchs<br />

der Gebrüder Grimm - noch ganz "Ausrichtung". Und doch bemißt<br />

sich Verstehen nicht in der schriftgemäßen Befolgung des<br />

Befehls allein: Gadamer klagt situative Kompetenz mit ein,<br />

also das, woran die Informatik mit sogenannten adaptiven<br />

Verfahren arbeitet. Gibt es den zeitverzogenen Befehl<br />

Denkt man sich nun einen Historiker, der in der Überlieferung einen solchen Befehl findet und verstehen will, so<br />

ist er zwar in einer ganz anderen Lage als der ursprüngliche Adressat. Er ist nicht der Gemeinte und kann daher<br />

den Befehl gar nicht auf sich beziehen wollen. Gleichwohl muß er, wenn er den Befehl wirkich verstehen will,<br />

idealiter die gleiche Leistung vollbringen, die der gemeinte Empfänger des Befehls vollbringt. Dem<br />

Selbstverständnis der Wissenschaft zufolge darf es also für den Historiker keinen Unterschied machen, ob ein<br />

Text eine bestimmte Adresse hatte oder als ein "Besitz für immer" gemeint war <br />

- womit wir fast schon in Weimar, nämlich in der Weimarer<br />

Klassik Goethes sind, und den Medien, die diesen ewigen Besitz<br />

instituieren: das Goethe- und Schillerarchiv. In der<br />

Unterscheidung einer konkreten Befehlsadressierung von<br />

allgemeingültiger Adressierung kommt Johann Gustav Droysens<br />

Differenz von intentionalem Denkmal und unwillkürlichem<br />

Überrest zum Zug.<br />

Die Selbstinterpretation der geisteswissenschaftlichen<br />

Methodik ist eine Selbstermächtigung, insofern "der Interpret<br />

zu jedem Text einen Adressaten hinzudenkt, ob derselbe durch<br />

den Text ausdrücklich angesprochen worden ist oder nicht"<br />

. Und doch sind Hermeneutik und<br />

Historik offenbar nicht ganz das gleiche; tatsächlich sucht<br />

der Historiker in überlieferten Texten ja garade nicht das<br />

Identische, sondern die Differenz seiner lesenden Gegenwart<br />

zur Vergangenheit: er strebt "durch dieselben hindurch ein<br />

Stück Vergangenheit zu erkennen", mithin also der<br />

perspektivische Blick Albertis, die fenestra aperta - wie es<br />

zeitgleich zum Buchdruck denkbar geworden ist.<br />

Er sucht daher den Text durch andere Überlieferung zu ergänzen und zu kontrollieren. Er<br />

empfindet es geradezu als die Schwäche des Philologen, daß dieser seinen Text wie ein Kunstwerk ansieht. Ein<br />

Kunstwerk ist eine ganze Welt, die sich in sich selbst genügt. Aber das historische Interesse kennt solche<br />

Selbstgenügsamkeit nicht. <br />

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