Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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zur Zeit der Leipziger Völkerschlacht ausgesprochene Prognose<br />
wie die Vorwegnahme des den (an das Dispositiv der Post<br />
gekoppelten) Buchdruck überflügelnden Mediums Radio -<br />
Restitution der Rede nicht als logozentristische Metaphysik<br />
der Präsenz, sondern als Funktion einer Übertragungstechnik:<br />
Es wird bald dahin gekommen sein, daß wir mit allen Flügeln der Buchdruckerkunst nicht weiter reichen, als mit<br />
der gewöhnlichen Stimme und mit aller Vervielfältigung unsrer Geistesprodukte nicht weiter reichen als mit<br />
einem gewöhnlichen Brief. und der vermeintlich so mächtige Hebel der Geister, die Buchdruckerkunst, tritt<br />
zuletzt in die Reihe der gewöhnlichen Kopiermaschinen zurück. 137<br />
Vorerst aber lautet das Übertragungsmedium der Stimme,<br />
schneller als aller Buchdruck körperloser Gedanken, Gerücht,<br />
akzeleriert durch den Ausnahmezustand eines Europakrieges:<br />
Die Gedanken fliegen schon von selbst umher auf allen Gassen, man braucht nur zu atmen, um sie zu haben;<br />
noch heut können Millionen Geister von dem rechten Feldherrn, wenn er kommt, wie mit einem Schlage ihr<br />
Losungswort erhalten. <br />
Müller will nur noch gedruckt sehen, was schon gesprochen<br />
wurde - Druckerkunst „als eine dienende Beihülfe für die<br />
eigentliche rednerische Tat“, als Distributionsmedium . Dabei macht es einen Unterschied, ob der Leser „Lettern<br />
in seine Seele hineindrücken läßt, und sich leidend verhält“,<br />
oder bei der Lektüre anderer Schriften „dieselbige Seele<br />
zwischen den Zeilen spielen und einfügen läßt, was ihr<br />
beifällt“. Dem Buchdruck setzt Müller in agonalem<br />
Anachronismus zur Restitution der alten Würde des<br />
geschriebenen Wortes das Manuskript entgegen, wie es in<br />
Bibliotheken vergraben liegt und der<br />
wissensarchäologischen Entdeckung harrt (wie es das<br />
Quelleneditionsunternehmen der Monumenta Germaniae historica<br />
fast zeitgleich in Angriff nehmen wird): „So sicher als die<br />
Werke des Homer oder des Platon wandeln sie durch die Stürme<br />
der Jahrhunderte hindurch“ - ein Phänomen, auf das<br />
auch die Memetik hinweist.<br />
Philologie aber achtet auf Brüche in der Übertragung Homers,<br />
dem „transmissional process in action“ . „The general<br />
picture is one of a very danyamic, open tradition, with<br />
diminuition over time in the range of textual variation“ <br />
- Kanonisierung. Wobei im 2. Jh. v. Chr. entscheidende<br />
Standardisierung des Textes feststand. „Readers in the 3rd<br />
century B.C. faced merely a succession of letters,<br />
uninterrupted except by verse-termini“ 138 ; erst im Akt des<br />
Lesens wurde durch Artikulation interpretiert (Software).<br />
Hinzu tritt „the changing nature of its physical form“ ,<br />
die Materialität der kulturellen Übermittlung:<br />
For any attempt to trace the history of Himer in antiquitey it is the ancient manuscripts themselves that constitute<br />
the only secure evidential bse; they serve as a control on the nature and worth of the medieval tradition and on<br />
any reconstruction of the first four or five hundred years. <br />
137<br />
Müller 1812/1967: 157 (Rede IX. Von der neueren Schriftstellerei der Deutschen)<br />
138<br />
Michael Haslam, Homeric Papyri and Transmission of the Text, in: Ian Morris / Barry Powell (Hg.), A new<br />
Companion to Homer, Leiden / N. Y. (Brill) 1996, 55-<br />
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