Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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weiß der Historiker und Diplomat Barthold Georg Niebuhr über<br />
den antiken pater historiae Herodot zu schreiben, daß kein<br />
Quellenstudium „Licht und Wahrheit gewähren kann, wenn<br />
der Leser nicht den Standpunkt faßt, von wo, und die Media<br />
kennt, wodurch der Schriftsteller sah, dessen Berichte er<br />
vernimmt." 140 Die Sage, so Schiller weiter, läßt alle<br />
Begebenheiten vor dem Gebrauche der Schrift für die<br />
Welt(als)geschichte, die erst im Diskurs narrativ-linearer<br />
Argumentation überhaupt als Zusammenhang postuliert werden<br />
kann (Immanuel Kant), „so gut als verloren" gehen .<br />
Tatsächlich weiß diese Form der Übertragung von einer (dem<br />
Diskurs der Historie gegenüber) differenten<br />
Gedächtnismedialität. „Nur wenige Trümmer haben sich aus der<br />
Vorwelt in die Zeiten der Buchdruckerkunst gerettet“ ;<br />
so legitimiert sich auch der Impuls zu vom Steins<br />
Editionsprojekt der Monumenta Germaniae historica nach 1819<br />
aus der Notwendigkeit, ein dauerhaftes, d. h. operables, in<br />
reproduzierbare Texte überführtes Gedächtnisdispositiv, eine<br />
typographische Datenbank für künftige Historiographien zu<br />
setzen - einen Speicher zu akkumulieren als „Aggregat von<br />
Bruchstücken“ .<br />
Schillers Mißtrauen erwacht ob solcher Medieneffekte negativer<br />
Filterung und wissenschaftlicher Unwiederbringlichkeit und der<br />
Unzuverlässigkeit menschlicher Berichterstattung „bey dem<br />
ältesten historischen Denkmal, und es verläßt uns nicht einmal<br />
bey einer Chronik des heutigen Tages“ ; das<br />
Bewußtsein von Techniken der Nachrichtenübertragung macht die<br />
Differenz von Vergangenheit und Gegenwart nichtig. „So viele<br />
Lücken in der Weltgeschichte entstehen, als es leere Strecken<br />
in der Ueberlieferung giebt“ , doch diese Einsicht<br />
in Übertragungsverluste läßt Schiller dennoch blind für eine<br />
weitergehende Medienanalyse. Empirische Leerstellen im Archiv<br />
des kulturhistorischen Wissens, die der wissensarchäologisch<br />
diskret operierende Forscher konstatiert, sollen<br />
Geschichtsphilosophen unter Bezug auf teleologische<br />
Algorithmen der Weltgeschichte („diese Folge von<br />
Erscheinungen, die in seine Vorstellung soviel Regelmäßigkeit<br />
und Absicht annahm“ 141 ) divinieren oder zum System ergänzen - im<br />
abgeleiteten Medium der historischen Imagination und qua<br />
Analogie . 142 Einmal mit dem Programm einer<br />
Geschichtsphilosophie ausgestattet, durchwandert der<br />
Historiker mit diesem teleologischen Prinzip das Archiv noch<br />
einmal, um in seiner Speicheranordnung „die Ordnung der Dinge“<br />
selbst zu (er-)finden; ein gedächtnistechnisches<br />
Arrangement wird somit zur Information seiner Daten.<br />
Jenaer akademischen Antrittsrede aus dem Jahre 1789 (in: Der Teusche Merkur vom Jahre 1789, viertes<br />
Vierteljahr, Weimar), 126<br />
140<br />
B. G. Niebuhr, Über die Geographie Herodots (1812), in: Kleine historische und philologische Schriften. Erste<br />
Sammlung, Bonn 1928, 132<br />
141<br />
Heinrich Luden, Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte. Vier öffentliche Vorlesungen,<br />
Jena 1810, 18<br />
142<br />
Siehe Friedrich Kittler, Medien der Universalgeschichte bei Schiller, in: ders., Eine Kulturgeschichte der<br />
Kulturwissenschaft, München (Fink) 2000, 80ff<br />
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