Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
verstanden zu werden, dem Übersetzer keine größeren<br />
Schwierigkeiten zumutet, als etwa die alten<br />
Hieroglyphenschreiber ihren Lesern.“ 245 Freuds Konzeption der<br />
Nachträglichkeit trägt einen operativen Zug:<br />
Nicht das Erlebte allgemein wird nachträglich umgearbeitet, sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in<br />
dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte. Das<br />
Vorbild für ein solches Erleben ist das traumatisierende Ereignis. Das nachträgliche Umarbeiten wird<br />
beschleunigt durch unvermutet eintreffende Ereignisse und Situationen. <br />
Wobei er in einem Brief vom 6. Dezember 1896 an W. Fließ eine<br />
geologisch-archäologisch-archivische Metaphorik wählt für die<br />
"Annahme, da daß unser psychischer Mechanismus durch<br />
Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit<br />
das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung<br />
nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt" .<br />
Halluzinationen von Kommunikation über Zeiten hinweg stehen im<br />
Verbund von Rhetorik und Medien. Gregor von Tours berichtet,<br />
daß König Chilperich (561-584) in einer Asylangelegenheit<br />
einmal an das Grab des heiligen Martinus einen Brief schickte,<br />
in dem stand, der heilige Martinus möge ihm eine Antwort<br />
schreiben, ob man Gunthram aus seiner Kirche herausschaffen<br />
dürfe oder nicht. Der Diakon Baudigisel, der diesen Brief<br />
überbrachte, legte jedoch mit demselben ein unbeschriebenes<br />
Blatt ... bei dem heiligen Grabe nieder. Als er nach drei<br />
Tagen noch keine Antwort erhielt, kehrte er zu Chilperich<br />
zurück. 246 Karls des Großen Schenkung des Kirchenstaats an Papst<br />
Hadrian I. vollzog sich am Ostermittwoch des Jahres 774 in der<br />
Krypta von St. Peter; eine Abschrift der Urkunde wurde im Grab<br />
Petrus´ abgelegt. „Der Apostelfürst nahm Briefe entgegen,<br />
fertigte aber auch durch die Päpste Briefe aus. Im Codex<br />
Carolinus findet sich eine vom Papst mit dem Ich des Petrus<br />
ausgesprochene Antwort; es ist der bekannte Notbrief Stephans<br />
II. an Pippin: Ego apostolus dei Petrus tamquam praesentaliter<br />
in carne vivus adsistens coram vobis ... Der Papst als Stimme<br />
Petri, die sich von dessen Grabe aus erhebt - das ist die<br />
vielberedete Identität von Petrus und Papst“ 247 , und die<br />
propopopoietische Stimme von jenseits des Grabs, also der<br />
memoria (dann abgleitet von Chateaubriand als Mémoire d´outretombe).<br />
Aleida Assmann entziffert die Emergenz des literarischen<br />
Genres „Geistergespräch“ in Humanismus und Renaissance<br />
245<br />
Sigmund Freud, Die Traumdeutung, in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich / Angela<br />
Richards / James Strachey, Frankfurt/M. (Fischer) 1982, Bd. II, 337<br />
246<br />
Gregor von Tours, Historiarum libri decem. Zehn Bücher Geschichten V 14, hg. v. Rudolf Buchner, Darmstadt<br />
1955, 304<br />
247<br />
Arnold Angenendt, Grab und Schrift, in: Hagen Keller u. a. (Hg.), Schriftlichkeit und Lebenspraxis im<br />
Mittelalter, München (Fink) 1999, 9-23 (20), unter Bezug auf: Codex Carolinus Nr. 10, hg. v. Wilhelm Gundlach,<br />
in: MGH Epistolae 3, <strong>Berlin</strong> 1892, 467-657 (501f)<br />
86