Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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Internet - mit Rückkanal denkt, andererseits aber - und das<br />
ist die Differenz zum Internet - die mittelpunktslose<br />
Verknotung nicht formulieren mag:<br />
In Deutschland können Wissenschaften und Künste nicht betrieben, nicht gefördert werden, wenn nicht durch<br />
alle Provinzen, wo Deutsch gesprochen wird, der Buchhandel von einem Punkt aus gehandhabt, wenn nicht von<br />
allen Provinzen aus gleichförmig wieder nach einem Punkt gestrebt würde. Deutschland hat keinen Mittelpunkt,<br />
keine Hauptstadt, keinen allgemeinen Beschützer für Wissenschaft, Kunst und Litteratur. Die Gesammtheit<br />
muß dies ersetzen, der Buchhandel ist das Mittel zur Einheit <br />
Als Inhalt wird das Medium zur Form: "Die deutsche Nation ist<br />
eine lesende, reflectirende: die Litteratur ist ihr Mittel zur<br />
Cultur" . Man mag Perthes daran erinnern wollen, daß in<br />
der römischen Antike die Buchhändler, die librarii, zunächst -<br />
nach griechischem Vorbild - bibliographoi waren, "also<br />
Abschreiber auf Vorrat" - von daher das Wort Kopie, von copia<br />
(Menge) - "oder Bestellung". 158 Titulus war dabei das Etikett,<br />
das den Inhalt der Pergamentrollen kurz skizzierte und anpries<br />
- reine Adresse. "In der Spätantike hatte der Kodex, gut<br />
ablesbar am byzantinischen Kulturkreis, vor allem Speicherund<br />
Tradierfunktion." 159 Erst der Kodex "als kulturtechnisches<br />
Signal" macht Bücher buchstäblich<br />
handhabbar und damit interaktiv (in Rückkopplung) lesbar,<br />
ermöglichte doch "die Codexlektüre gleichzeitiges Abschreiben,<br />
Exzerpieren, Vergleichen, kurz: aktive Auseinandersetzung mit<br />
einem Text" . Nach dem Vorbild der zusammengehefteten<br />
Wachshefte aus Holz ermöglichte der Kodex die Unterteilung und<br />
damit diskrete Adressierbarkeit von Texten - Orientierung und<br />
Navigierbarkeit. Bis zum siebten Jahrhundert waren antike<br />
Texte, die man für erhaltswert ansah, buchstäblich in die neue<br />
Überlieferungsform übertragen - das Medium der Tradition (auch<br />
wenn die päpstliche Kanzlei noch länger am Papyrus festhielt).<br />
Indem die christliche Religion diesen medialen Träger der<br />
göttlichen Offenbarung mit dem Gattungsnamen selbst als Bibel<br />
bezeichnete, wurde das Medium hier buchstäblich zur Botschaft<br />
. Die erfolgreichsten Religionen sind laut Dawkins<br />
diejenigen, welche Instruktionen zum Kopieren in sich tragen.<br />
Eine Aufforderung zur Speicherung und Verbreitung der<br />
christlichen Lehre sowie zur Drohung bei Veränderung dieser<br />
Lehren ist in der Offenbarung des Johannes zu finden: "Selig<br />
ist, der die Worte der Weissagung in diesem Buch bewahrt“;<br />
„Versiegle nicht die Worte der Weissagung in diesem Buch, denn<br />
die Zeit ist nahe; „Wenn jemand etwas hinzufügt, so wird Gott<br />
ihm die Plagen zufügen, die in diesem Buch geschrieben<br />
stehen“; „Wenn jemand etwas wegnimmt von den Worten des Buchs<br />
dieser Weissagung, so wird Gott ihm seinen Anteil wegnehmen am<br />
Baum des Lebens". 160 Der Begriff der abendländischen Kultur ist<br />
158<br />
Reinhard Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels, München (Beck) 1991, 14<br />
159<br />
Werner Faulstich, Das Medium als Kult. Von den Anfängen bis zur Spätantike, Göttingen (Vandenhoeck &<br />
Ruprecht) 1997, 264<br />
160<br />
Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR, Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg): Die Bibel nach der<br />
Übersetzung Martin Luthers, Leipzig, Evangelische HauptBibelgesellschaft zu <strong>Berlin</strong> und Altenburg, <strong>Berlin</strong>,<br />
1986, Das Neue Testament, S. 306<br />
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