Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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Es gibt keine Horizontverschmelzung als Chronokommunikation.<br />
In seiner Glosse „Hermeneutische Aufklärung“ empfahl Jürgen<br />
Kaube Hans das Hauptwerk Wahrheit und Methode des jüngst<br />
verstorbenen Hans-Georg Gadamer „zur nichtdekonstruktiven<br />
Lektüre“ 219 . In derselben Ausgabe ließ die Frankfurter<br />
Allgemeine Zeitung den Meisterdenker der Dekonstruktion,<br />
Jacques Derrida, mit einem Nachruf zu Gadamer zur Wort kommen<br />
(„Wie recht er hatte! Mein Cicerone Hans-Georg Gadamer“).<br />
Seltsame Korrespondenzen - ein versöhnliches Geistergespräch<br />
über die Abgründe des Mißverstehens hinweg, wie wohl erst mit<br />
Toten möglich ist, nachdem eine wirkliche Aussprache zwischen<br />
Dekonstruktion und Hermeneutik nahezu endlos hinausgeschoben<br />
war. Vergessen wir nicht, Anfang der 80er Jahre war Derrida in<br />
Paris mit Gadamer in eine harte, geradezu unversöhnliche<br />
Auseinandersetzung geraten, weil der Begriff des verstehenden<br />
Dialogs gerade jene Störungen und Differenzen ausbzublenden<br />
drohte, die jede Auseinandersetzung buchstäblich prägen.<br />
Begreift man Korrespondenz als Ort der ideellen Begegnung<br />
zwischen einer ersten und einer zweiten Person, "ist die<br />
Intervention einer dritten naturgemäß störend“ 220 - das<br />
Parasitäre, übertragen auf die Zeit: Zensur-Systeme (der Post<br />
als Übertragung), oder die Hardware von Medien. Derrida<br />
insistierte damals auf „diskontinuierlicher Umstrukturierung“.<br />
Gegenüber einem Rechnen mit Diskontinuitäten ist der Begriff<br />
der Tradition gedächtnispolitisch konservativ. Beide Denker<br />
aber konvergieren in ihrer Blindheit gegenüber der medialen<br />
Natur dieser Übertragungsstörungen von Verstehen.<br />
Hermeneutik klagt die Vorurteilsstruktur des Verstehens als<br />
blinden Fleck der Geisteswissenschaften ein. Dieser blinde<br />
Fleck aber sind nicht die Geister, sondern die Medien der<br />
Tradition, die Gadamer implizit benennt. Wenn alles Verstehen<br />
ein "Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen" ist, erinnert<br />
es nolens volens an das mediale Dispositiv der Hermeneutik. Zu<br />
diesem Zweck braucht Tradition nur durch den<br />
nachrichtentechnischen Begriff der „Übertragung“ ersetzt zu<br />
werden.<br />
Gadamer beschreibt die kognitive Finte der "unmittelbaren<br />
Substitution des Interpreten an die Stelle des Adressaten",<br />
die den Interpreten also an die Stelle des ursprünglichen<br />
Adressaten eines Textes treten läßt - jene Position, die<br />
Historiker gerne einnehmen, indem sie sich als Adresse einer<br />
Post, eines Geschicks namens Historie setzen. Auch wenn<br />
Gadamer diese Einsicht in "die Ursprünglichkeit des Gesprächs<br />
als des Bezugs von Frage und Antwort" umbiegt, weiß er doch,<br />
daß bei aller kommunikativen Übertragung medialer Verzug -<br />
nämlich der mediale Kanal - mit im Spiel ist; das<br />
219<br />
Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 70 v. 23. März 2002<br />
220<br />
Martin Fontius, Post und Brief, in: Hans Ulrich Gumbrecht / Karl L. Pfeiffer(Hg.), Materialität der<br />
Kommunikation, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 267-279 (273)<br />
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