Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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In der unbearbeiteten historischen Überlieferung existiert die Tatsache nur als eine ungeordnete<br />
Ansammlung von lediglich durch ihr Nebeneinander verbundenen Bruchstücken. Diese Bruchstücke müssen<br />
zusammengesetzt werden, um einbesonderes, nicht allgemeines Gesetz zu ergeben. <br />
Die Funktion von Chronos im Titelkupfer zu Lafiteaus Moeurs<br />
verweist die inventarisierende Klio auf eine bildhafte Vision,<br />
eine metahistory, die den zerstreuten Objekten erst eine<br />
Organisation gibt. Schauen wir nicht so sehr auf ihre Figur<br />
der schreibenden Frau, die ikonologisch die Rolle Klios<br />
spielt, sondern auf das Buch, in das sie schreibt. Dort ziehen<br />
sich nämlich nicht lineare Zeilen hin, Historiographie als<br />
Erzählung, sondern Spalten, Zahlen. In der deutschen Ausgabe<br />
von Lafitaus Werk 125 heißt es erklärend zu den in der ersten<br />
Abteilung enthaltenen Kupferstichen, daß es im<br />
Kulturvergleich, mithin in den Kulturwissenschaften um Listen<br />
geht:<br />
Das Titelkupfer stellet eine schreibende Person vor, die gegenwärtig mit der Vergleichung verschiedener<br />
Denkmale des Altertums, als Pyramiden, Obelisken, pantheischen Figuren, Münzen, alten Schriftstellern, u.s.w.<br />
mit verschiedenen Erzälungen, Landkarten, Reisen und andern americanischen Merkwürdigkeiten, die alle um<br />
dieselbe herum liegen, beschäftget ist. Zween Schutzgeister bringen diese Denkmale herzugetragen, halten eins<br />
gegen das andere, und erleichtern diese anzustellende Vergleichungen durch Bekanntmachung ihrer mit einander<br />
habenden Ueberenstimmung. Die Zeit aber, auf welche die Kenntnis aller Dinge hautpsächlich ankömt, macht<br />
diese Zusammenhaltung dadurch noch weit rürender, wenn sie die rechten Quellen anzeiget, und die wahrhafte<br />
Verbindung dieser Denkmale mit dem ersten Ursprunge der Menschen, mit dem Grunde unserer Religion, und<br />
mit dem ganzen Lehrgebäue der unseren Vätern nach dem Sündenfalle geschehenen Offenbarung gleichsam mit<br />
den Fingern zeiget.<br />
Die Rede ist von Zusammenhaltung, nicht Zusammenhang: die<br />
Kohärenz ist nicht intrinsisch, sondern fabriziert. Was<br />
geschieht, wenn keine autoritäre Erzählung, keine Große<br />
Erzählung (im Sinne Lyotards) Klios Schrift anleitet, hat<br />
Gustave Flaubert in seiner Novelle Bouvard et Pécuchet<br />
satirisiert:<br />
Die Objekte in der Sammlung von Flauberts Schreiberlingen Bouvard und Pécuchet sollten im Idealfall mithilfe<br />
von Regeln und Prozeduren klassifiziert und geordnet werden, die selbst nicht der Inventarisierung unterliegen.<br />
Die Unfähigkeit Bouvards und Pécuchets, die verschiedenen Disziplinen des Wissens dadurch zu beherrschen,<br />
daß sie ihnen zusammenhängende Erzählungen zuordnen, liegt in der Tatsache begründet, daß Worte und<br />
Gegenstände Ordnungen angehören, die nichts miteinander zu verbinden scheint. Wenn es ihnen unmöglich<br />
erscheint, die Archäologie ihrer ordnenden Kontrolle zu unterwerfen, so deswegen, weil ihre Kenntnis der<br />
Geschichtswissenschaft unzureichend ist. 126<br />
Archäographie hieß in einem Werktitel des britischen<br />
Altertumsforschers Jacques Spon einmal der alternative Name<br />
nicht nur zur Archäologie, sondern zur Geschichtsschreibung<br />
selbst. Klios Position als Aufschreibesystem (statt<br />
Geschichtenerzählerin) ist nicht so exzentrisch, wie sie auf<br />
den ersten Blick scheint, wenn sie diskursiv isoliert<br />
betrachtet wird. Auch Antoine Laurent Lavoisier,<br />
Mitherausgeber der Méthode de nomenclature chimique von 1787<br />
(ein Meilenstein der anorganischen Chemie bis heute), wird im<br />
125<br />
Leipzig 1987 (hrsg. v. Helmut Reim), Neudruck der Auflage Halle 1752/3: JeanFrancois Lafitau, Die Sitten<br />
der amerikanischen Wilden im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit<br />
126<br />
Dazu Sven Spieker, Il y a: Kabakov´s Weigerung, den Mülleimer zu leeren, Typoskript, Kapitel<br />
„Bouvard et Pécuchet. Mit Dank an den Autor.<br />
43