Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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„wird allerdings die Tatsache in den Hintergrund gedrängt,<br />
dass die hierfür genutzten Elemente oft eine Materialität von<br />
großer historischer Tiefe und Unveränderlichkeit aufweisen<br />
(vgl. Relikt), die es nicht zulässt, sie ausschließlich als<br />
zeitgenösssiche `Erfindung´ zu bezeichnen“ 212 - womit die<br />
Historizität von Tradition in der Resistenz des Materialen<br />
selbst liegt.<br />
Tatsächlich hat diese Behauptung ein mediales Dispositiv: die<br />
Tatsache, daß überhaupt Briefe aus der Antike erhalten sind.<br />
Im Wadi Nahal Hever, einer Wüste in der Nähe des Toten Meeres,<br />
waren die Archäologen auf ein Bündel beschriebener Papyri<br />
gestoßen: Briefe Bar Kochbas und aus seiner Umgebung, deren<br />
sorgfältige Publikation sich bis in Ende 2001 hinzog. In der<br />
ideologischen oder nationalistischen Debatte um die Bedeutung<br />
dieses letzten Aufstandes nehmen nicht-literarische Quellen<br />
(also archäologische Quelle strictu sensu) einen besonderen<br />
Stellenwert ein: Inschriften, Papyri und archäologische<br />
Überreste. Überreste im Sinne Droysens: „Alle drei Typen von<br />
Quellen weisen den Vorteil auf, daß sie unmittelbar aus der<br />
Zeit stammen, über die Aussagen gemacht werden“ ,<br />
während spätere literarische Reflexionen über das Ereignis<br />
dasselbe bereits verschieben. 1977 entdeckte der Archäologe<br />
Gideon Foerster im nördlichen Jordantal südlich der antiken<br />
Stadt Scythopolis mehrere Fragmente einer lateinischen<br />
Inschrift, die er zu einem fast vollständigen, rund 11 Meter<br />
breiten Text ergänzte. Wir erkennen den Spalt zwischen dem<br />
Realen (der Materialität bzw. den Lücken) und dem Symbolischen<br />
(der hypothetischen Ergänzung) der Überlieferung, nach Regeln,<br />
wie sie aus der Nachrichtentechnik vertraut sind: Es geht um<br />
die Wahrscheinlichkeit der Buchstabenfolge nach dem<br />
mathematischen Modell der Kommunikation. Daten sind das<br />
Resultat von Tradition, buchstäblich und etymologisch.<br />
Angesichts löchriger Inschriften und der allgemeinen<br />
Fragmentarität von Überlieferung fordert Medienarchäologie den<br />
mutigen Blick auf die Lücken zwischen den Daten. Zurecht<br />
werden Stimmen laut, die da fragen, wie sich denn auf diese<br />
Art überhaupt noch Geschichte schreiben läßt. In der Tat geht<br />
es hier um einen alternativen, medienarchäologischen Entwurf<br />
dessen, was traditionell und ontologisch Geschichte heißt.<br />
Es ist den Versuch wert, die lückenhafte Datenbasis der<br />
Überlieferung von Vergangenheit nicht durch hypothetisch zu<br />
Erzählbarkeit (also Historie) zu ergänzen, sondern<br />
buchstäblich mit ihren Lücken zu rechen. Ganze<br />
Kollektivsingularia - wie etwa Namen für antike Völker - lösen<br />
sich dann wieder auf in diskrete fragmentarische Datencluster.<br />
Dies läuft auf eine radikale Entzeitlichung des<br />
Traditionsbegriffs hinaus, zugunsten von Termini der<br />
Operationen des Speicherns, Übertragens und Reaktualisierens<br />
von Daten: „Es ist nichts anderes als ein jeweils aktuelles<br />
212<br />
Gisela Welz, Eintrag „Tradition“, in: Pethes / Ruchatz 2001: 587-590 (589)<br />
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