Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin

seiner eigenen Erinnerungen an das Treffen unsicher, das
selbst unter unsicheren kommunikativen Bedingungen gestanden
hatte und post eventum schon im Zeichen von Hiroshima und
Nagasaki stand. „Hat er den Brief wegen solcher Unsicherheit
nicht abgeschickt“ . Michael Frayn beschrieb vor
Bekanntmachung der Dokumente das historische Treffen beider
Physiker in seinem Theaterstück Kopenhagen. Seine Analyse der
neuen Dokumente kommentiert die Frankfurter Zeitung einleitend
als den Triumph des Dramas über die Archive. „Zumindest hier,
auf der Bühne, kommen sie noch einmal zusammen, um
herauszufinden, was geschehen war.“ 226
Für unzustellbare oder nicht zugestellte Sendungen steht auch
der Fall de Man, eines Meisterdenkers der literarischen
Dekonstruktion, nach dessen Tod aus dem Archiv hinterrücks
inkriminierende Zeitungsartikel aus seiner Jugendzeit im von
der deutschen Wehrmacht besetzten Belgien im 2. Weltkrieg
auftauchten. An einigen Stellen scheint er nämlich den Plan
einer Deportation der Juden Europas nach Madagaskar
befürwortet zu haben. Zwar hatte Paul de Man aus mehreren
Anlässen (etwa bei Antritt seiner Professur in den USA) auf
seine Artikel in Le Soir verwiesen, doch diese frühen
Schriften
had remained, like the purlointed letter, exposed but invisible, open but unread, until the relentless progress
of archival devotion delivered them from sufferance. the arrival of this long­delayed letter strikes us now
with the full disruptive force of an event as an `occurrence´ ­ an irreversible disruption of cognition.
But that theory´s outside was precisely, we know now, always already within. The arrival of this purlointed
letter, then, is an event not only for de Man . His death makes it necessary to face the letter without him. 227
Jacques Lacan weist auf den semantischen Nebensinn der
französischen Formel vom lettre en souffrance: ein
"unzustellbarer" Brief respektive Buchstabe. 228 Denken wir
jedoch die Textartefakte im Archiv analog dazu als Lettern
(„Archiv heißt ein Behältnis von Sachen und Briefschaften“ 229 ),
deren mediale Latenzzeit (als Zwischenspeicher) auf
Adressierung wartet, wird sofort klar, daß zwischen dem von
Poe beschriebenen und von Lacan analysierten Delirium der
Signifikanten und ihrer archivischen Einlagerung die
Differenz, der Einschnitt der Institution liegt, welcher aller
Arbitrarität der Zeichen Schranken setzt, die der Logistik von
Gedächtnismacht selbst entspricht. Nicht jeder kulturelle
Speicher ist Archiv, und der Unterschied von Lettern und
226
Michael Frayn, Ich gab Heisenberg die Chance, sich zu verteidigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 41
v. 18. Februar 2002, 51
227
Barbara Johnson, xxx, 1989, xii
228
In ihrer Freiburger Dissertation: Verfolgung und Trauma, Wien (Passagen) 1990; Jacques Lacan, „Das
Seminar über E. A. Poes `Der entwendete Brief´“, in: ders., Schriften I, hg. Norbert Haas, Frankfurt/M.
(Suhrkamp) 1975 (*Écrits, Paris 1966), 7­41 (28f)
229
Johann Heinrich Zedler, Großes Vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 2, Halle / Leipzig 1732 (Reprint Graz
1961), Spalte 1244
79