Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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für diese neue Quellengattung die Droysensche Differenz<br />
zwischen absichtsvoller, gezielter Tradierung (mit dem Akzent<br />
auf den buchstäblich medial kodierten Vermittlungsprozessen 199 )<br />
und unabsichtlicher Überlieferung (Überrest) gilt, zeigt der<br />
Film Geliebtes Leben. Michael Kuball hat Amateurfilme aus der<br />
Zeit von 1900 bis 1940 zusammengetragen: zehntausende von<br />
Metern privater Filmdokumente. „Zu sehen ist damit eine<br />
Geschichte des Alltags, die mehr erzählt als alle<br />
mediengerecht zusammengebastelten Wochenschauen und<br />
Reportagen. Ein Stück kollektiver Erinnerung.“ 200 Der<br />
Amateurfilm ist als Nachrichtenmedium jenseits der Sprache und<br />
deren Zwang zum reflektierenden Erzählen oder Argumentieren zu<br />
verstehen. 201<br />
Sendet die Vergangenheit damit Lichtstrahlen, wie ein<br />
Filmprojektor, in die Gegenwart Unser Blick in den Weltraum<br />
jedenfalls erblickt Sterne, die vielleicht längst schon<br />
erloschen sind. Béla Balázc wies 1949 darauf die paradoxe<br />
Wirkung alter Filme hin: Diese werden nämlich nicht primär als<br />
Vergangenheit, sondern Gegenwart wahrgenommen und lösen beim<br />
Betrachter entsprechende Affekte aus.<br />
Interessanterweise greift Droysen auf die Physik des Lichts<br />
zurück, um die Intentionalität von kultureller Tradierung zu<br />
beschreiben. Da selbst die vorzüglichsten Quellen<br />
Vergangenheiten in jener Gestalt seien, „wie menschliches<br />
Verständnis sie aufgefaßt und sich geformt“ habe, geben sie<br />
dem Historiker „sozusagen nur polarisierendes Licht“ 202 .<br />
Die Lehre vom Wellencharakter des Lichtes, auf die Droysen rekurriert, stellt heraus, daß das Licht bei<br />
gewöhnlichen Wellen in allen Richtungen senkrecht zu seiner Ausbreitungsrichtung schwingt. Erst ein<br />
Polarisator richtet die Schwingungsebene des Lichts. 203<br />
Die Polarisation des Lichtes meint dessen Ausrichtung:<br />
Eine transversale Welle hat ihre Schwingungsrichtung (z.B. den EFeldvektor einer Lichtwelle) senkrecht zur<br />
Ausbreitungsrichtung k. Es gibt jedoch beliebig viele Ebenen, die senkrecht zu einer gegebenen Richtung k<br />
stehen können. Wenn die Schwingungsrichtungen von Wellen wahllos über diese möglichen Ebenen verteilt sind,<br />
heißen sie unpolarisierte Wellen (Beispiel: "natürliches" Licht: Sonnenlicht oder Licht von einer thermischen<br />
Quelle). Findet dagegen die Schwingung in nur einer bestimmten Ebene statt, spricht man von einer polarisierten<br />
Welle. 204<br />
Der Elektrizitäts-Metapher in Droysens Historik geht es um den<br />
Funken, der überspringt. Walter Benjamins Thesen über den<br />
199<br />
Siehe den Eintrag „Tradierung“ von Jens Ruchatz, in: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres<br />
Lexikon, hg. v. Nicolas Pethes / ders., Reinbek (rowohlts enzyklopädie) 2001, 586f<br />
200<br />
Kommentartext in: zitty 1/2002, 172<br />
201<br />
In diesem Sinne auch Heino Handelmann (Schmalfilmmuseum Strasburg/Mecklenburg), Der lange Atem der<br />
Wirklichkeit. Die Schmalfilmbewegung, Typoskript<br />
202<br />
Johann Gustav Droysen, Grundriß der Historik, in: ders., Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und<br />
Methodologie der Geschichte, hg. v. Rudolf Hübner, Darmstadt 1974, 319-366 (333f)<br />
203<br />
Michael Zimmermann, Quelle als Metapher. Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen<br />
Selbstverständlichkeit, in: Historische Anthropologie, 5. Jg. (1997) Heft 2, 268-287 (280)<br />
204<br />
http://www.physik.fu-berlin.de/~brewer/ph3_polar.html<br />
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