Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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Archivalie 230 ist der zwischen Diskurs und medialem Gesetz der<br />
Überlieferung.<br />
Ist die Post das Medium der Tradition Stephen Greenblatt<br />
erinnert an Franz Kafkas Geschichte "Die große chinesische<br />
Mauer", worin dem Leser der sterbende Kaiser eine Botschaft<br />
sendet, die aber im Prozeß der Übertragung (zuviele Paläste,<br />
zuviele Straßen, zuviele Tore) den Adressaten nie erreichen<br />
werden . Hier spielt sich der klassische Streit<br />
Derrida / Lacan um die destinerrance ab, das Spiel der Stillen<br />
Post. Tatsächlich ist die Struktur der Post nicht nur synchron<br />
die Bedingung der humanistischen (Freundschafts-)Ethik,<br />
sondern auch diachron; die Philosophie ließ sich seit der<br />
griechischen Antike überhaupt erst „weiterschreiben wie ein<br />
Kettenbrief durch die Generationen, und allen Kopierfehlern<br />
zum Trotz“ (Sloterdijk) – ein Wissen, das immer auch seine<br />
kryptologische Variante mitgeneriert hat. „Ohne die Codierung<br />
der griechischen Philosophie auf transparenten Schriftrollen<br />
hätten die Postsachen, die wir die Tradition nennen, niemals<br />
aufgegeben werden können“ (Sloterdijk; Kursivierung W. E.);<br />
somit ist Tradition, medial, als Kulturtechnik des Übertragens<br />
und Speicherns definiert. 231 Wird der Übertrager der Botschaft<br />
am Ende wieder für die Botschaft verantwortlich gemacht<br />
Weil man gegen die im Ausland sitzenden Betreiber der am Pranger stehenden Seiten wenig unternehmen kann,<br />
sollen nun die Zugangsanbieter virtuelle Grenzzäune errichten und auch pflegen. Man wolle sich an den<br />
Briefträger halten, kritisierte eine AntiZensurInitiative um den Stuttgarter Aktivisten Alvar Freude. 232<br />
So taucht eine schon verschwundene Figur wieder auf: der<br />
Postbote als Briefüberträger, die körperliche Präsenz der<br />
Mediation. Zwischen Sender und (unterstellter) Adresse liegt<br />
also eine postalische, zeit-räumliche Verschiebung, eine<br />
différance, eine Verzerrung. Wer auch immer sich an die Stelle<br />
eines angenommenen Adressaten stellt, steht zu ihm immer schon<br />
in einem nach-träglichen Verhältnis (Nachnahme). Sender und<br />
subsumierter Empfänger teilen nicht denselben Code. „Texts<br />
that obsessively aim at arousing a precise response on the<br />
part of more or less precise empirical readers are in<br />
fact open to possible `aberrant´ decoding“ 233 - statt Bestimmung<br />
und Schicksal (Destination) also - mit Derrida gesprochen -<br />
destinérrance. Hat sich dieses Modell mit der Übertragung in<br />
elektronischen Medien (Radio, Fernsehen) geändert<br />
230<br />
Stefan Brotbeck spricht - unter Bezug auf Lacan 1966/1975 - von der „verschütteten arché des Briefes“: „Sujet<br />
en souffrance“, in: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse 7 (Februar 1988), 57-82 (58). Siehe auch das Gegenstück<br />
Martin Stingelins, ebd. Heft 6 (Oktober 1987), 68-84<br />
231<br />
Peter Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die<br />
Elmauer Rede, in der vom Autor autorisierten Version in: Die Zeit v. 16. September 1999, 15<br />
232<br />
Monika Ermert, Saubermann im Cyberspace. Tumult in Düsseldorf um Sperrung von Web-Seiten, in:<br />
Süddeutsche Zeitung v. 9. April 2002 (Ressort Wissenschaft)<br />
233<br />
Umberto Eco 1981b: 8, zitiert, nach: Jörgen Bang, The meaning of plot and narrative, in: Peter Bögh Andersen<br />
/ Berit Holmqvist / Hens F. Jensen (Hg.), The computer as medium, Cambridge / New York / Melbourne<br />
(Cambridge UP) 1993, 209-221 (213)<br />
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