Tradition1.pdf (Download) - Medienwissenschaft - HU Berlin
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Historische Interpretation meint also "nicht den gemeinten,<br />
sondern den verborgenen und zu enthüllenden Sinn" - das<br />
allegorische Erbe der biblischen Exegese. Hier liegt auch jene<br />
Figur der historischen Operation angelegt, die Foucault an<br />
Historikern in seiner Einleitung zur Archäologie des Wissens<br />
kritisiert - die Verwechslung von Dokument und Monument. "Der<br />
Text wird als ein Dokument verstanden, dessen eigentlicher<br />
Sinn über seinen wörtlichen Sinn hinaus erst zu ermitteln ist,<br />
z. B. durch Vergleich mit anderen Daten" . Steht Gadamer<br />
hier in unerwartetem Verbund mit dem Anliegen der Annales,<br />
Serien von Daten zu bilden statt sie zu erzählen Historische<br />
Lektüre entpuppt sich als allegorische Operation oder als<br />
symbolische Indiziendeutung im Sinne der psychoanalytischen<br />
Traumdeutung, veritable Archäologie:<br />
So gilt für den Historiker grundsätzlich, daß die Überlieferung in einem anderen Sinne zu interpretieren ist, als<br />
die Texte von sich aus verlangen. Er wird immer hinter sie und die Sinnmeinung, der sie Ausdruck geben, nach<br />
der Wirklichkeit zurückfragen, von der sie ungewollter Ausdruck sind. Die Texte treten neben alles sonstige<br />
historische Material, d. h. neben die sogenannten Überreste. Auch sie müssen erst gedeutet werden, d. h. nicht<br />
nur in dem verstanden werden, was sie sagen , sondern in dem, was sich in ihnen bezeugt. <br />
Hier liegt das Rauschen der Überlieferung - ganz im Sinne von<br />
Droysens Quellengattung der Überreste und der Kriminalistik:<br />
"Der Historiker verhält sich zu seinen Texten wie der<br />
Untersuchungsrichter beim Verhör von Zeugen", wobei die bloße<br />
Tatsachenfeststellung noch nicht die wirklich historische<br />
Operation ausmacht - sagt Gadamer in Antizipation von Carlo<br />
Ginzburgs Spurensicherung . Zudem ist der archäologische<br />
Blick, die diskrete Lektüre, die chirurgische Ästhetik des<br />
hermeneutischen Nullpunkts der Interpretation eine Illusion<br />
(zumindest für Menschen, wenn nicht für Maschinen): "Es gibt<br />
niemals den Leser, der, wenn er seinen Text vor Augen<br />
hat, einfach liest, was dasteht" - es sei denn, der<br />
digitale Scanner.<br />
Die prosopopoietische Illusion<br />
Tradition ist ein System von Übertragungen, Vermittlungen,<br />
Ersetzungen, Unterstellungen, Unterschiebungen - VERschichte.<br />
Wenn Sigmund Freud in seiner Traumdeutung von "Übertragung",<br />
von "Übertragungsgedanken" schreibt, bezeichnet er damit eine<br />
Form von Verschiebung, in welcher der unbewußte Wunsch zum<br />
Ausdruck kommt und sich hinter den von dem vorbewußten<br />
Material gelieferten Tagesresten verbirgt 244 - Überreste der<br />
kurzfristigen Art. Freuds Traumdeutung setzt sich - analog zur<br />
postalisch-hermeneutischen Unterstellung des Historikers - an<br />
die Stelle eines Adressaten, der so nie gemeint war, so daß<br />
„die Darstellung der Traumarbeit, die ja nicht beabsichtigt,<br />
244<br />
Eintrag "Übertragung", in: J. Laplanche / J.P. Pontialis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M.<br />
(Suhrkamp) 1999, 550559 (550ff)<br />
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