Ansichtsexemplar (KPB_MJ2014) - Kulturprojekte Berlin
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<strong>Berlin</strong>ische Galerie | Aus den Sammlungen<br />
ren Kontakt er oder sie sucht,gegeben sein muss.<br />
Die sogenannte Snailmail, der geschriebene und<br />
frankierte Brief, eingeworfen in einen der mittlerweile<br />
raren Postkästen und per Hand transportiert,<br />
ist im Aussterben begriffen und mit ihr<br />
das Verzeichnis der handschriftlich fixierten Namen<br />
und Adressen. Damit stirbt eine Form von<br />
Geschichtlichkeit aus, die an das Papier gebunden<br />
ist. Der elektronische Zugriff kennt nur das<br />
»Ganz oder Gar nicht«: Ist eine Information gelöscht,<br />
verschwindet das vormals Vorhandene<br />
gänzlich, mithin spurlos. Über Jahre erfolgte Änderungen,<br />
Durchstreichungen, grafische Ergänzungen,<br />
Hervorhebungen, die als Metatext in einem<br />
analogen Informationsträger lesbar bleiben,<br />
sind nicht mehr nachvollziehbar, ebenso<br />
wenig das Prozessuale, das Gewachsene der<br />
persönlichen Bezüge, die alphabetisch kategorisiert<br />
wurden.<br />
Als Hannah Höch mit 28 Jahren ihr Adressbuch<br />
anlegte, wird sie nicht geahnt haben, dass<br />
dasselbe sie bis zu ihrem Lebensende, also über<br />
den erstaunlichen Zeitraum von über sechs Jahrzehnten,<br />
begleiten würde. Die ersten Einträge<br />
stammen aus der Zeit, als Deutschland noch ein<br />
Kaiserreich im Ersten Weltkrieg war. Höch er-<br />
oben: Floris M. Neusüss, Hannah Höch, 1962.<br />
Fotografische Sammlung, <strong>Berlin</strong>ische Galerie.<br />
© Floris M. Neusüss<br />
gänzte Adressen in den nicht immer so »Goldenen<br />
Zwanzigern«, hielt das Buch fest im sogenannten<br />
Dritten Reich, als sie sich als »Kulturbolschewistin«<br />
gebrandmarkt in ihrem kleinen<br />
Domizil im äußersten Norden <strong>Berlin</strong>s von der<br />
Welt vergessen machte, und las die ehemaligen<br />
Adressen ihrer Freunde, die aus Nazi-Deutschland<br />
bereits emigriert waren, nicht wissend, wie<br />
sie den Krieg überlebt haben. Die Künstlerin<br />
führte das Adressbuch konstant weiter, als Dada<br />
in den späten 1950er-Jahren in Deutschland<br />
kunsthistorische Weihen erfuhr, als die jungen<br />
Fluxus-Künstler sie in Heiligensee besuchten,<br />
als der erste Mensch den Mond betrat – ein Ereignis,<br />
das Höch dermaßen bewegte, dass sie<br />
es mehrfach künstlerisch thematisierte. Unmöglich<br />
zu sagen, welcher der letzte Name ist,<br />
den sie mit Bleistift oder Kugelschreiber fixierte,<br />
nicht klar zu bestimmen, welche die letzte Visitenkarte<br />
war, die Hannah Höch ihrem Adressbuch<br />
einverleibte. Entstanden ist ein biografisches<br />
»Florilegium«, eine Blütenlese einzigartiger<br />
Güte, das nicht nur ein, sondern zwei Alphabete<br />
umfasst und dessen Umfang durch die<br />
zahlreichen, eingelegten Zettel letztlich nur<br />
noch durch Pappumschlag und Paketschnur gebändigt<br />
werden konnte.<br />
links: Beispiel minimalinvasiver<br />
Restaurierung<br />
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