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Ansichtsexemplar (KPB_MJ2014) - Kulturprojekte Berlin

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Centrum Judaicum | Ausstellungen<br />

von links nach rechts:<br />

Gelber Schein, offiziell<br />

»Medizinisches Billet«,<br />

für Julia Mendik, St. Petersburg 1875.<br />

© Staatliches Historisches Archiv,<br />

St. Petersburg<br />

Innenseiten eines<br />

Gelben Scheins, 1894.<br />

© Staatliches Historisches Archiv,<br />

St. Petersburg<br />

Rosa Nelken mit zwei Männern,<br />

auf der Reise von Lemberg nach<br />

New York, um 1920. © UNOG Library,<br />

League of Nations Archive<br />

en, ihrem sozialen Hintergrund, ihren Motiven,<br />

Hoffnungen und Ängsten möglichst nahezukommen.<br />

Denn während die Aktivitäten diverser<br />

Komitees, die sich um 1900 zur »Bekämpfung<br />

des Mädchenhandels« bildeten, zumindest umfangreich<br />

dokumentiert sind, weiß man über<br />

die Lebensrealität ihrer Zielgruppe bis heute<br />

sehr wenig.<br />

Ein Dutzend Lebensschicksale, die für <strong>Berlin</strong><br />

und Bremerhaven jeweils unterschiedlich ausgewählt<br />

sind, stehen im Zentrum der Ausstellung.<br />

Da geht es zum Beispiel um die 18-jährige<br />

Dorothea Louise Ludwig, die 1864 aus Hessen als<br />

Tanzmädchen nach Kalifornien ging. Von den<br />

1000 Gulden »Kaufpreis«, der an ihre Eltern entrichtet<br />

wurde, bezahlten diese ihre Schulden.<br />

Oder um Sophia Chamys: Sie wurde ihrem Vater<br />

als 13-Jährige in Warschau »abgekauft«, um als<br />

Dienstmädchen nach Łódź zu gehen – wenige<br />

Monate später befand sie sich in einem Bordell<br />

in Buenos Aires. Fani Wajner und Liza Kowal<br />

schrieben 1906 einen erschütternden, im Original<br />

erhaltenen Brief aus Bombay: Aus Lemberg<br />

waren sie über Rio de Janeiro bis nach Indien verschleppt<br />

worden. Meta Stecher wiederum reiste<br />

als 14-Jährige aus Bremerhaven auf einem Passagierdampfer<br />

ganz allein nach New York. Anderthalb<br />

Jahre später wurde sie dort krank und völlig<br />

erschöpft aufgefunden: Mehrere Männer hatten<br />

sie vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen.<br />

Meist sind nur wenige Fragmente dieser Lebensgeschichten<br />

erhalten. Das Ausstellungsteam<br />

fand sie in Archiven unter anderem in <strong>Berlin</strong>,<br />

Buenos Aires, Genf, Odessa, Wien und St. Petersburg.<br />

»Der Gelbe Schein« – so der Titel der<br />

Ausstellung – steht für einen besonderen Aspekt<br />

der Lebensrealität dieser Mädchen und<br />

Frauen: Im vorrevolutionären Russland mussten<br />

Frauen, die der Prostitution nachgingen, einen<br />

solchen Ausweis beantragen oder bekamen ihn<br />

polizeilich aufgezwungen. Im Tausch dafür hatten<br />

sie ihre Personalpapiere abzugeben und verloren<br />

ihre bürgerliche Identität. Ein Rücktausch<br />

war fast unmöglich. Den Prostituierten wurden<br />

bestimmte Verhaltensmaßregeln und häufige<br />

medizinische Kontrollen auferlegt, jedoch eine<br />

gewisse Freiheit bei der Wahl ihres Wohnortes<br />

zugestanden. Für jüdische Frauen in Russland<br />

bildete dieser »Gelbe Schein« fast die einzige<br />

legale Möglichkeit, aus dem Ansiedlungsrayon<br />

für Juden in Großstädte wie Moskau oder St. Petersburg<br />

umzuziehen. Laut zeitgenössischen Berichten<br />

sollen Tausende jüdischer Frauen den<br />

»Gelben Schein« und ständige Gesundheitskontrollen<br />

auf sich genommen haben, ohne je<br />

als Prostituierte zu arbeiten. Das Sujet wurde<br />

vom jiddischen Theater um 1910 und in der Folge<br />

auch in verschiedenen internationalen Spielfilmen<br />

aufgegriffen. Nach aufwendigen Recherchen<br />

hat das Ausstellungsteam mehrere Exemplare<br />

des »Gelben Scheins« in einem Archiv in<br />

St. Petersburg gefunden; in der Ausstellung werden<br />

sie jetzt erstmals gezeigt.<br />

Nicht alle Lebensgeschichten, die in der<br />

Schau und dem zeitgleich erscheinenden Begleitband<br />

thematisiert werden, handeln von jüdischen<br />

Frauen, und nicht alle spielen in Russland.<br />

Gemeinsam aber ist allen, dass die Frauen<br />

der Armut und Ausweglosigkeit ihrer Lebenssituation<br />

nur entkommen konnten, indem sie<br />

neue Ausgrenzung auf sich nahmen. Sie mussten<br />

sich von ihrem vertrauten Umfeld, von den<br />

dort geltenden Werten und Moralvorstellung<br />

trennen und zogen oft um die halbe Welt. Manchen<br />

von ihnen gelang nach ein paar Jahren im<br />

Sexgewerbe der Ausstieg in ein ganz normales<br />

Familienleben. Manche wurden als Unternehmerinnen<br />

im Rotlichtmilieu reich. Doch die Umstände,<br />

unter denen ihre Lebenswege verliefen,<br />

sind bis heute so tabuisiert, dass es so gut wie<br />

keine mündliche oder private Überlieferung<br />

dazu gibt.<br />

So wirft die Ausstellung ganz bewusst mehr<br />

Fragen auf, als sie beantworten kann. Die von<br />

Andreas Heller Architects and Designers (Hamburg)<br />

gestaltete Schau lädt dazu ein, die großformatigen<br />

Porträts der Mädchen und Frauen<br />

auf sich wirken zu lassen, in Briefen, Polizeiprotokollen<br />

und alten Zeitungsartikeln zu lesen,<br />

Audiodokumente zu hören und in zehn Dossiers<br />

mehr über die Hintergründe des Mädchenhandels<br />

um 1900 zu erfahren. Eine filmische Installation<br />

des in <strong>Berlin</strong> lebenden, argentinischen<br />

Regisseurs und Filmemachers Ciro Cappellari<br />

stimmt mit Bildern aus dem heutigen Buenos<br />

Aires und Odessa auf die Beschäftigung mit einem<br />

vergessenen Aspekt der Zeitgeschichte<br />

ein – der überraschend aktuell wirkt.<br />

Irene Stratenwerth<br />

Irene Stratenwerth lebt als Journalistin, Autorin und<br />

Ausstellungskuratorin in Hamburg. Zuletzt erschien ihr<br />

Kriminalroman »Im wilden Osten dieser Stadt« (Rowohlt<br />

2012). Für die Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum<br />

realisierte sie seit 2001 mehrere große Ausstellungen,<br />

darunter »Wo ist Lemberg« im Jahr 2007.<br />

»Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930«<br />

ist eine gemeinsame Ausstellung der Stiftung Neue<br />

Synagoge <strong>Berlin</strong> – Centrum Judaicum und des Deutschen<br />

Auswandererhauses Bremerhaven, ermöglicht durch die<br />

Kulturstiftung des Bundes. Es erscheint eine gleichnamige<br />

Publikation, hg. von Simone Eick und Hermann<br />

Simon, edition DAH, zum Preis von 14,80 €.<br />

M U S E U M S J O U R N A L 4 / 2 0 1 2 | 6 3

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